Seit Tagen herrscht vielsagende Stille um Irina Starych. Russlands beste Biathletin hat am Donnerstag ihren Rückzug aus Sotschi verkündet, sie wurde positiv getestet - und Biathlon ist im Gastgeberland wichtigster Wintersport nach Eishockey. Zudem betrifft die Affäre eine zweite - nicht dementierte - Russin; nur hat Ekaterina Jurjewa die Sotschi-Qualifikation nicht geschafft. Aber auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) hüllt sich bei seinem "härtesten Anti-Doping-Kampf bei Olympischen Spielen", den IOC-Chef Thomas Bach verkündigt hat, in Schweigen.
Das verschärft die Lage an der Pharma-Front schon vor der Eröffnungsfeier. Denn Dopingverdachtsfälle sind das eine Problem. Neue, hochgefährliche Betrugssubstanzen aus russischer Forschung womöglich das andere.
Hektisch recherchiert hinter den Kulissen die Administration des Sotschi-Patrons Wladimir Putin die Vorfälle im Biathlonlager. Die Sportler selbst sind seit Tagen im Olympiadorf und wissen "nichts, rein gar nichts", wie Wolfgang Pichler sagt, der deutsche Trainer der russischen Frauen. Es sei wie in einem Krimi. Die Sündenfälle sind das Schlimmste, was aus Veranstalter-Sicht passieren konnte abseits all der politischen Konfliktzonen. Denn nun schwebt schon vorm ersten Start der vertraute Verdacht über Russlands Sportlern, die auch in der Vergangenheit mit Verlässlichkeit aufgeflogen sind.
Dopingaffäre im russischen Biathlon:Absturz der Senkrechtstarter
Zwei Dopingfälle im russischen Biathlon sorgen kurz vor den Winterspielen in Sotschi nicht nur im Land der Gastgeber für Unruhe. Die ganze Sportart fürchtet um ihren Ruf.
Die letzte Biathlon-Affäre datiert von 2009, schon damals war Jurjewa dabei, ihr Epo-Konsum hatte eine zwei-jährige Sperre zur Folge. Betroffen war auch Albina Achatowa, Olympiasiegerin in Turin 2006; Silber-Gewinnerin Olga Pylewa wurde bei anderer Gelegenheit erwischt. Gold und Silber gaben Russlands Damen auch 2002 in Salt Lake City zurück, da betraf es Langläuferinnen. Bestätigt hat der Weltverband IBU bisher noch nichts, weder Namen noch Substanzen. Die B-Proben stehen noch aus; auch im Falle eines dritten Athleten, der aus Litauen kommt.
Jetzt wird das erschreckende Pharma-Szenario um den russischen Sport durch einen neuen Verdacht bereichert. Ein international renommiertes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau soll Dopern eine hochwirksame Substanz anbieten, die nicht von der Analytik erfasst wird. Dies berichtete am Sonntagabend die ARD- Sportschau. Demnach habe der Wissenschaftler verdeckt arbeitenden Reportern den Wachstumsfaktor Full Size MGF zum Kauf offeriert, der in seiner Einrichtung auf pharmakologische Wirkung hin erforscht wird. In staatlichem Auftrag.
Der Forscher habe den Reportern ein mg zu Testzwecken überlassen, "für eine ausreichende Versorgung von Athleten noch vor Beginn der Winterspiele forderte er 100 000 Euro", teilt der Sender mit. Laboruntersuchungen in Deutschland hätten dann die Echtheit und Reinheit der in Moskau erworbenen Substanz bestätigt: Es handele sich um den Wachstumsfaktor Full Size MGF, ein Hormon, das bisher nur in Tierversuchen erprobt wurde.
Dopinganalytiker Mario Thevis vom Kölner Kontrolllabor geht in dem WDR-Beitrag davon aus, dass die Substanz auf große Nachfrage bei Dopern stoßen dürfte. Gerade der Muskelaufbau werde beschleunigt, sie sei "dem Wachstumsfaktor IGF 1 ähnlich und als hochwirksam einzustufen". Diese Einschätzung teilt der Pharmakologe Fritz Sörgel gegenüber der SZ. Der Nürnberger Experte sagte am Sonntag: "Es ist auf jeden Fall eine hochwirksame Substanz, die eine erhebliche Rolle im physiologischen Geschehen spielt und noch nicht nachweisbar ist."
Was die Nachweisbarkeit angeht, verweist das IOC zwar gerne darauf, dass die Proben der Spiele eingefroren und acht Jahre verwahrt werden, um im Bedarfsfall mit verbesserten Verfahren nachuntersucht zu werden. Sörgel hält aber entgegen: Die Qualität der Proben nach all den Jahren hänge entscheidend von der Temperatur ab, in der sie aufbewahrt werden. Die aus den IOC-Labors berichteten 20 Grad minus seien aber bei weitem nicht ausreichend. Das genüge für Anabolika - "aber Eiweiße oder Hormone sind auch in gefrorenem Zustand von kurzer Lebensdauer. Solche Proben müssen bei minus 80 Grad Celsius aufbewahrt werden, sonst gehen sie relativ schnell kaputt."
Auch das für Sotschi zuständige Labor sagt, es könne die neue Substanz nicht ermitteln. Gewöhnlich werden Spiele-Proben monatelang im Veranstalterland aufbewahrt, bevor sie ins IOC-Labor nach Lausanne wandern. Auch dabei wurden schon Probleme mit der Kühlungskette moniert.
Neu sei die Substanz aus Moskau gar nicht wirklich, sagt Sörgel: "Es gibt eine sehr gute Arbeit aus dem Jahr 2005, da ist sie schon beschrieben." Full Size MGF sei chemisch sehr nah am menschlichen Wachstumsfaktor. Indes sei auch die geringfügige Veränderung an der Molekülstruktur nichts Neues im Dopingbereich: Schon der Wirkstoff THG, mit dem vor einer Dekade US-Spitzensportler wie Olympiasiegerin Marion Jones dopten, war ein für Betrugszwecke leicht modifiziertes Steroid. Eine Designerdroge, gefunden nur zufällig bei einer Steuer-Razzia. Auch für die aktuelle Substanz sieht Sörgel "kein ernsthaftes Forschungsziel. Ich denke, der Doping-Aspekt steht im Vordergrund".
Dopingfälle vor Olympia:"Totale Kontrolle"
Drei Biathletinnen aus Russland und Litauen werden nur wenige Tage vor den Winterspielen in Sotschi positiv getestet. Besonders pikant: Eine von ihnen soll bei Olympia starten. Im Gastgeberland ist die Aufregung groß - manche wittern gar eine Verschwörung.
Das bestätigt den Verdacht, den er und viele Dopingexperten seit langem äußern: "Dass es viel öfter vorkommt, dass Leute im Hintergrund experimentieren, die gar nicht oder nur per Zufall auffliegen." Was auf der Hand liegt, die Vertreiber machen sich strafbar.
Sörgel und Thevis betonen, das Gesundheitsrisiko für Menschen sei gar nicht abzuschätzen, weil das Mittel weder erprobt noch klinisch zugelassen sei. Naturgemäß ist noch nicht bekannt, ob es in Umlauf ist. Doch ist der Mensch als Versuchstier ein vertrautes Szenario im Sport.