Raymond van Barneveld bei der WM:Der Rocky des Darts-Sports

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"Wenn ich verletzlich bin, sieht das die ganze Welt": Raymond van Barneveld nimmt nach seinem Erstrunden-Sieg bei der WM im Ally Pally die Ovationen der Fans entgegen. (Foto: Luke Walker/Getty)

Knapp zwei Jahre nach seinem Rücktritt ist Raymond van Barneveld zurück. Hinter ihm liegen berufliche Durststrecken und private Probleme - doch die Fans lieben ihn, als wäre er einer von ihnen.

Von Sven Haist, London

Am liebsten hätte Raymond van Barneveld wohl nach seinem Erstrundensieg bei dieser Weltmeisterschaft über Lourence Ilagan am Montag die Dartsbühne im Alexandra Palace nicht mehr verlassen. Nach seinem verwandelten Match-Dart auf die Doppel-9 - seinem ersten gewonnenen Spiel im Ally Pally seit dem Erreichen des Viertelfinales vor vier Jahren - drehte sich van Barneveld zu den Fans um. Im Gegensatz zum Spielverlauf, als er versuchte, sich vor dem Lärm der feiernden Masse abzuschotten, nahm er nun seine beiden Wattestöpsel aus den Ohren, um die Hochstimmung im Saal zu genießen. Sichtlich bewegt warf van Barneveld seinen Anhängern - der "Barney Army" - Kusshände zu, verneigte sich, legte seine Hand aufs Herz und schloss die Augen.

Dabei dürften in ihm Erinnerungen hochgekommen sein an die vielen unvergessenen Schlachten auf diesem Podium, die er vor allem mit seinem langjährigen Weggefährten, dem 2018 abgetretenen Rekordchampion Phil Taylor, ausgefochten hat, darunter das legendäre WM-Finale 2007. Denn mindestens so sehr, wie die Darts-Szene van Barneveld nach dessen Rückzug vor zwei Jahren nachgetrauert hatte, scheint der Niederländer selbst das Dartsspielen vermisst zu haben.

Van Barneveld wollte seinen Promistatus genießen - doch mit dem Lockdown kam die Langeweile

Überraschend hatte van Barneveld, 54, im November 2018 nach dreieinhalb Jahrzehnten auf der Tour seinen Abschied zum Beginn des Jahres 2020 angekündigt. Die Entscheidung begründete er damals mit den körperlichen Anstrengungen eines Spitzensportlers und ausbleibenden Erfolgen. Dazu kamen private Probleme, nachdem sich van Barneveld einige Monate vorher von seiner Ehefrau getrennt hatte.

In dieser Zeit lernte der Niederländer die deutlich jüngere Britin Julia Evans auf einem Turnier in Southampton kennen, mit der er mittlerweile in London lebt. Sein Vorhaben war, mit ihr gemeinsam den eigenen Prominentenstatus nach der Karriere auszuleben, mehr Zeit mit seinen Enkelkindern zu verbringen und nebenbei einige Showturniere zu bestreiten. Doch die Corona-Pandemie machte diesen Plan zunichte. Irgendwann im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 habe er "alle Filme und Serien" gesehen gehabt, erzählte van Barneveld einmal. Er begann sich zu langweilen und fühlte den Bedeutungsverlust, weil er das aufgegeben hatte, was er am besten konnte: Pfeile werfen.

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Interview von Sven Haist

Im Herbst 2020 fasste van Barneveld den Entschluss, seinen Rücktritt aufzuheben. Sein vorschnelles Goodbye bezeichnete er hinterher als seinen "größten Fehler", Darts sei sein Leben. Dieser Wankelmut stieß nicht nur auf Wohlwollen in der Branche. Der langjährige Weltranglistenerste Michael van Gerwen kritisierte seinen Landsmann unverblümt, weil er es "ungünstig" findet, kurz nach einem Abschiedsspiel, für das Tickets verkauft wurden, wieder zurück zu sein. Aber der Großteil der Szene, besonders die Professional Darts Corporation als Ausrichter des Weltcups sowie Fernsehanstalten, Sponsoren und Fans, begrüßten seinen Wandel, weil der fünfmalige Weltmeister noch immer zu den größten Zugpferden gehört. Mit kaum einem anderen Spieler kann sich das Publikum nach dem Karriereende von Altmeister Taylor besser identifizieren als mit van Barneveld.

Van Barneveld ist anzusehen, dass er offenbar seinen Lebenssinn wiedergefunden hat

Der ehemalige Postbote gehört der alten Garde an um die ehemaligen Weltmeister Gary Anderson und Peter Wright, die das Klischee des Kneipensports aufrechterhalten: dass es hier jeder vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen kann. Van Barnevelds von zahlreichen Höhepunkten und Tiefschlägen geprägte Karriere kommt den Lebensläufen des Massenpublikums vermeintlich am nächsten.

Neben andauernden privaten und gesundheitlichen Problemen, zu denen auch seine frühe Diabetes-Erkrankung und ein Sammelwahn beigetragen hatten, musste van Barneveld mehrere Todesfälle in seinem Bekanntenkreis verkraften. Im vergangenen Winter stürzte nach einem Schneesturm eine Seitenwand seines Hauses ein. Kurz danach, im März, erlitt er bei einem Turnier in Milton Keynes einen Schwächeanfall. Er könne nicht genau erklären, warum ihn "die Leute" lieben würden, sagte van Barneveld, aber vielleicht tun sie das, weil er immer er selbst geblieben sei: "Wenn ich verletzlich bin, sieht das die ganze Welt. Das ist kein Schauspiel."

Umgekehrt ist es ihm nun anzusehen, dass er offenbar seinen Lebenssinn wiedergefunden hat. Am Donnerstagabend trifft er in der zweiten Runde auf Ex-Weltmeister Rob Cross - der bisherige Höhepunkt des Turniers. Dabei wird Raymond van Barneveld wieder zur Einlaufhymne "Eye Of The Tiger" auf die Bühne treten. Wenn nicht bekannt wäre, dass das Lied der Band Survivor extra für den Film "Rocky III" geschrieben wurde, könnte der Text auch eine Hommage an van Barneveld sein: "Stieg auf, bis nach ganz oben / Hatte den Mumm und erntete den Ruhm / Habe einiges hinter mich gebracht, jetzt bin ich wieder auf den Beinen / Nur ein Mann und sein Wille zu überleben."

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