Mehr als verdutzt zu gucken fällt Federico Pizarro nicht mehr ein. Es läuft die 48. Minute, die Argentinier rollen mit einem Mann mehr auf dem Feld auf das deutsche Tor zu, die Chancen stehen bestens für einen Erfolg. Pizarro bekommt den Ball in der rechten Ecke, springt in den Kreis, versucht eine Bogenlampe über Carsten Lichtlein hinweg - doch für den deutschen Torwart ist das keine Herausforderung. Er greift den Ball einfach aus der Luft. Die Höchststrafe für einen Angreifer.
Dabei hätte es Pizarro besser wissen müssen: Dieser Lichtlein, der bei der Handball-WM im deutschen Tor steht, hat seine Aufgaben bisher bravurös gelöst. 15 Paraden gelangen ihm beim 28:23-Erfolg gegen Argentinien, eine Quote von fast 40 Prozent gehaltenen Bällen. Ein überragender Wert, den nur die wenigsten erreichen. Der deutsche Torwart hat den größten Anteil daran, dass sein Team in Katar im Achtelfinale steht. "Es freut mich natürlich, dass ich gut gehalten habe", sagte Lichtlein später, "aber das ist ein Erfolg des Teams". Es sind typische Carsten-Lichtlein-Sätze.
Dass er mit seiner Leistung endlich mal im Mittelpunkt steht, ist die Belohnung für unfassbare Geduld. Wo die meisten längst aufgegeben hätten, hat Carsten Lichtlein weitergemacht. Immer und immer wieder. Er ist nun 34 Jahre alt, seit er 21 war, spielt er in der A-Nationalmannschaft. Seine Aktivitäten bei vergangenen Turnieren waren vor allem: Kollegen motivieren, Wasserflaschen aufschrauben, Wasserflaschen zuschrauben, Handtücher reichen. Lichtlein war mehr Maskottchen als Handballer.
Brand sprach von "Bilderbuchkarriere"
Dabei war der Mann vom VfL Gummersbach schon früh ein guter Torwart. 1999 wurde er bei der Junioren-Europameisterschaft zum besten Torhüter des Turniers gewählt, der damalige Bundestrainer Heiner Brand attestierte dem Jüngling eine "Bilderbuchkarriere" und berief ihn 2003 in den WM-Kader. Es war ein vielversprechender Start, in etlichen anderen Nationen wäre Lichtlein wohl zu größerem Ruhm gelangt. Doch diese Torhüternation Deutschland, sie wurde für Lichtlein zum Problem.
Immer gab es einen Ausnahmetorhüter im Team, der nicht zu verdrängen war. Am Anfang Henning Fritz, der 2004 als erster Torwart überhaupt zum Welthandballer gekürt wurde. Dann stürmte Johannes Bitter ins Team, der beim WM-Finale 2007 zum großen Gewinner wurde. Und schließlich Silvio Heinevetter, den seine unorthodoxe Spielweise unberechenbar macht. Die WM in Katar ist Lichtleins elftes Turnier - immer war er nur Ersatzmann. Manchmal war für ihn auf der Bank gar kein Platz mehr, auch vorzeitig abgereist ist er schon. Doch er hat immer geglaubt, dass da noch was kommt in seiner Karriere. Dem Handballmagazin sagte er einmal: "Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her."
Beschwert hat sich Lichtlein nie, das ist auch sein großes Plus: Den Trainern gefällt er wegen dieser Einstellung noch mehr, er ist ein musterhafter Mannschaftsspieler. Anders als seine Vorgänger hat sich Coach Dagur Sigurdsson bei diesem Turnier nicht auf eine Nummer eins im deutschen Tor festgelegt. "Ich habe immer gesagt, dass wir beide Torhüter brauchen werden", sagte er im Anschluss an die dritte WM-Partie. Mal gibt er Heinevetter den Vorzug, mal Lichtlein. Es ist ein positives Signal für Lichtlein: Alles ist offen. Es spielt, wer gut drauf ist.
Und mit Silvio Heinevetter ergänzt er sich perfekt. Der Berliner musste am Donnerstagabend die gesamte Partie auf der Bank verbringen. Mit der Schlusssirene sprang er auf, umarmte Lichtlein innig und gratulierte. Diesmal war er der Handtuchträger.