VfL Bochum:Mit Theatralik zum tabellarischen Sehnsuchtsort

Lesezeit: 3 min

Sein oder nicht sein - auf dem Rasen perfekt in Szene gesetzt: Dem dramatischen Tiefpunkt (Eigentor) lässt Keven Schlotterbeck neun Minuten später die Erlösung (Torjubel) folgen. (Foto: Udo Kreikenbohm /Funke Foto Services/Imago)

Bochums Dramatruppe spielt unter dem neuen Trainer Heiko Butscher so weiter wie unter seinem Vorgänger: engagiert, aber glücklos. Diesmal in tragender Rolle: Keven Schlotterbeck, dem binnen weniger Minuten Erstaunliches gelingt.

Von Ulrich Hartmann, Bochum

Am nächsten Wochenende kommt die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft nach Bochum. Regelmäßig gastiert sie hier mit ihrer Frühjahrstagung, und am Samstagabend zeigt das örtliche Schauspielhaus Hamlet. "Sein oder nicht sein." Ausgerechnet Bochums größte Dramatruppe ist an jenem Tag allerdings nicht in der Stadt. Sondern beim Gastspiel in Wolfsburg. Abstiegskampf on tour. Der VfL Bochum spielt sich zurzeit die Seele aus dem Leib - allerdings mit nur geringem Erfolg.

Beim jüngsten 1:1 gegen Heidenheim, einer Dramödie mit Shakespearschem Anklang, spielte die Hauptrolle einer, der mit seinem lautmalerischen Namen auch im Schauspielhaus reüssieren könnte: Keven Schlotterbeck. Erst ein Eigentor, dann ein eigenes Tor - und das alles in den letzten zehn Minuten. Das hätte die Shakespeare-Gesellschaft mal live vor Ort erleben sollen.

Einer der Unterschiede zwischen Ruhrstadion und Schauspielhaus? Wenn ein Schauspieler mal seinen Text vergisst oder eine Schauspielerin wegen der Rollenbesetzung murrt, dann schmeißt man im Theater nicht gleich den Intendanten raus. Beim VfL Bochum gehen sie mit ihren Trainern zuweilen recht treulos um; letzte Woche kündigten sie dem Schwaben Thomas Letsch, um "einen neuen Impuls" zu setzen.

SZ PlusMeinungTrainerentlassung beim VfL Bochum
:Kratzer an der Fassade

Die Romantik des Castroper Straßenfußballs ist im Ernstfall nur eine Phrase. Die Entlassung des Trainers Thomas Letsch beweist, dass am Standort Bochum dieselben Gesetze gelten wie im Rest der Liga.

Kommentar von Ulrich Hartmann

Diesen Ansporn hätte der zum Interims-Cheftrainer beförderte A-Jugend-Coach Heiko Butscher mit seinem ebenso lautmalerischen Namen auslösen sollen, doch dann - welche Überraschung! - spielte Bochum einfach so weiter wie zuvor unter Letsch: nämlich ebenso engagiert wie glücklos. Trotz deutlicher Überlegenheit gegenüber Heidenheim gelang nur ein einziger eigener Treffer - durch Schlotterbeck in der 90. Minute, nachdem Schlotterbeck in der 81. Minute das Eigentor widerfahren war: ein auch physikalisch grotesker Treffer. Der Ball nahm eine solch seltsame Kurve hoch durch die Luft, dass es wirkte, als lenkten ihn finstre Mächte.

Vorige Woche, als der neue Trainer Butscher auf der Pressekonferenz präsentiert wurde, kommentierte er seine Beförderung vom Jugend- zum Bundesligatrainer halb lakonisch, halb provokant. Er sagte: "Ich kann total nachvollziehen, dass der eine oder andere vielleicht sagt: Schaut mal auf die Tabelle, wo seine U19 steht, die ist ja auf dem drittletzten Platz - was wollt Ihr mit dem?" Seine A-Jugend, Drittletzter in der Bundesliga-Weststaffel, gewann am Samstag im ersten Spiel ohne Butscher 3:1 gegen den Tabellensiebten 1. FC Köln.

Trainingsschwerpunkt beim VfL Bochum: "Restverteidigung"

Was nun hat der 43 Jahre alte Allgäuer Butscher, seit 2015 in verschiedensten Trainerämtern beim VfL Bochum tätig, in seiner ersten Woche mit den zittrigen und seit zwei Monaten sieglosen Bochumer Fußballern gemacht? "Er hat versucht, sehr positiv zu bleiben", berichtete Kapitän Anthony Losilla. "Der Trainingsschwerpunkt war die Restverteidigung", verriet Sportdirektor Marc Lettau. "Heiko hat Wert auf Trainingsqualität gelegt", schilderte der Verteidiger Schlotterbeck, "es ist wichtig, dass die Mannschaft zusammenhält."

Butscher war mit dem ersten Spiel unter seiner Leitung dann offenbar nur so semizufrieden, was primär am mauen Ergebnis gelegen haben dürfte. "Nach einem Trainerwechsel erwartet immer jeder, dass es sofort fluppt", sagte er halb entschuldigend, lobte aber explizit den Willen und die Moral der Mannschaft. In den vergangenen Wochen hatten die Bochumer oft ernüchternde Gegentreffer in den letzten Minuten eines Spiels erlitten. Diesmal trafen sie zwar selbst in der 90. Minute, dieses normalerweise betörende Erlebnis wurde durch das Eigentor neun Minuten zuvor jedoch erheblich relativiert. Nach Schlotterbecks Treffer zum 1:1 ertönte im Ruhrstadion wie üblich als Torhymne der Can-Can von Jacques Offenbach. Das ist ein überschwänglicher Tanz aus der Operette "Orpheus in der Unterwelt" und passt als Jubelmoment inmitten des tristen Abstiegskampfs prächtig zum Dilemma des VfL Bochum.

Die Erkenntnis in Bochum: "Wir sind am Leben"

Nach Schlotterbecks Eigentor war Bochum zwischenzeitlich, weil Mainz zeitgleich gegen Hoffenheim führte, sogar für neun Minuten auf den drittletzten Platz der Tabelle abgerutscht. Der Rang würde am Saisonende Relegationsspiele gegen den Dritten der zweiten Liga nach sich ziehen, und diese Aussicht versucht der VfL entschieden zu verhindern. Als Schlotterbeck zum 1:1 traf, rutschte Bochum in der Tabelle wieder einen Platz nach vorn und ist jetzt weiter Viertletzter. Dies ist Bochums tabellarischer Sehnsuchtsort. Fünf Spiele bleiben, um ihn zu verteidigen.

Sportchef Lettau sagte nach dem emotionalen Remis gegen Heidenheim: "Heute sind wir der moralische Gewinner", Kapitän Losilla verkündete: "Wir sind am Leben!" Bochums Fußballleute sind stark in theatralischen Leitsätzen. Jetzt müssen sie nur noch erfolgreicher Fußball spielen, dann kommt vielleicht auch mal die Shakespeare-Gesellschaft zum Zugucken.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusInterview mit Leverkusen-Legende Emerson
:"Es ist unmöglich, dass sie das noch verspielen"

"Nie, nie, nie" werde Leverkusen etwas gewinnen, sagte im Jahr 2000 der traurige Spieler Emerson, als die Werkself in Unterhaching den Titel verdaddelte. Umso mehr freut sich der Brasilianer über die nahe Meisterschaftspremiere - und erinnert sich an selige Zeiten mit Daum, Calmund und "Tscholli".

Interview von Javier Cáceres

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: