Buenos Aires:Als habe ein Erdbeben das Land erschüttert

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Gedränge vor dem Palast: Polizisten versuchen, Fans im Zaum zu halten, die fürchten, nicht mehr zu Maradonas Sarg gelassen zu werden. (Foto: Ronaldo Schemidt/AFP)

Fahnen auf Halbmast, Unruhen vor dem Präsiden­ten­palast: Argen­tinien nimmt mit drei Tagen Staats­trauer Abschied von seinem berühmtesten Bürger.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Als Maria Inés Altieri von der Katastrophe hörte, war sie gerade in der Küche. Der Fernseher lief, das Programm stoppte, Eilmeldung. Maradona ist tot. "Da musste ich mich erst mal setzen", sagt Altieri, 68, heisere Stimme, vielleicht wegen all der Tränen heute, vielleicht wegen der vielen Zigaretten. Altieri steckt sich noch eine an, zitternde Finger, in der anderen Hand hält sie ihr Taschentuch fest umklammert. An irgendwas muss man sich ja festhalten in solchen Zeiten.

Kurz nach 16 Uhr ist es, Altieri steht auf der Straße, ein paar Blocks entfernt von ihrem Haus in La Paternal, einer ruhigen Gegend im Westen von Buenos Aires. Zweistöckige Häuschen, Autowerkstätten, enge Supermärkte - und eine Straße weiter: das Stadion "Diego Armando Maradona", Heimat des Erstligisten Argentinos Juniors und Maradonas. So steht es jedenfalls auf den Plakaten, die sie an die Mauern geklebt haben: Paternal, Tierra de Dios - also Paternal, Land Gottes - wobei sie "D10S" geschrieben haben, wegen der 10 auf Maradonas Rücken. Stolz blickt er von einem riesigen Wandgemälde, Kerzen brennen davor, Blumen liegen auf dem Boden, Trikots. Weihgaben für einen, der vor seinem Tod unsterblich war, aber schon zu Lebzeiten gefleddert wurde - und der nun, in der Stunde des Todes, nicht in Frieden ruhen kann. Denn um die Umstände seines Todes kreist schon Streit.

Die Ambulanz sei erst eine halbe Stunde nach dem Notruf eingetroffen, sagt Maradonas Anwalt Matías Morla; "kriminelle Idiotie" nennt er das. Hätte das Herz Maradonas, das am Mittwoch versagte, etwa doch gerettet werden können? Das Herz des Mannes, der mit seinem linken Fuß eine Nation auf ewig verzauberte?

Natürlich habe sie Maradona im Stadion gesehen, sagt Altieri, als er noch bei Argentinos Juniors gespielt hat. "Vier Tore hat er da gemacht, in einem Spiel - gegen Boca!" Kurz darauf lief Diego selbst mit dem blaugelben Trikot von Boca auf, von da an ging es immer weiter, Maradona wurde Weltstar, zu D10S. Jetzt ist er tot. Ganz überraschend sei es nicht gewesen, findet Altieri. Krank war Maradona schon lange, manchmal schon halb tot, trotzdem: "Niemand ist vorbereitet auf so etwas, oder?"

Tatsächlich hat Diego Maradonas Tod Argentinien unter Schock gesetzt. Für den Rest der Welt mag Maradona ein Ausnahmesportler gewesen sein, für die Argentinier war er mehr. Sie campierten vor seinem Haus, wenn er krank war, sie ließen sich sein Konterfei tätowieren, widmeten ihm Lieder und Stadien, beteten zu ihm. Aus Spaß, schon klar. Andererseits: Diego Maradona war auch immer eine ernste Sache.

Und so steht jetzt nicht mehr die aktuelle Verkehrssituation auf den digitalen Anzeigetafeln von Buenos Aires. Stattdessen: Gracias Diego, danke Diego. Trikots und argentinische Fahnen hängen aus den Fenstern und von den Balkonen, TV-Kanäle bringen Sondersendungen, das Radio spielt Lieder wie Capitán Pelusa von Los Cafres: "Deine Fans zweifeln nicht an dir, sie ärgern sich nicht und warten auf dich."

Im Zentrum von Buenos Aires strömten nach der Nachricht von Maradonas Tod Büroangestellte auf die Straße, als habe gerade ein Erdbeben das Land erschüttert. Spontan entstanden überall kleine Altäre, vor dem Stadion Diego Armando Maradona genauso wie in der "Bombonera", wo Boca Juniors spielt. Bocas Partie gegen Internacional Porto Alegre in Brasilien wurde gerade verschoben. Wer kann an Fußball denken, wenn Maradona stirbt?

In Villa Fiorito, einem Armenviertel südlich der Hauptstadt, pilgerten die Gläubigen zu dem schäbigen Häuschen, in dem Maradona aufwuchs. In Tigre, im reichen Norden, drängten sich Fernsehteams vor dem Eingang jener noblen Villensiedlung, in der Maradona nun gestorben ist.

Maradona war ein Kämpfer, einer, der nicht aufgibt. Vielleicht trifft sein Tod die Argentinier auch deshalb so hart: Einen wie ihn könnten sie gerade gut gebrauchen. Rund 230 Tage stand Argentinien wegen Corona unter Quarantäne, die meiste Zeit im Lockdown, nicht mal Spazierengehen war erlaubt. Jetzt sinken die Infektionszahlen endlich, die Wirtschaft aber erlebt den schlimmsten Absturz ihrer Geschichte. 40 Prozent der Argentinier leben unter der Armutsgrenze, die Inflation steigt, und jetzt auch noch das: Gott ist tot.

"Wie es mir geht?", fragt Lucas Andrago. Was für eine Frage! "Beschissen natürlich!" 36 Jahre alt ist Andrago, er trägt das blau-weiße Trikot der argentinischen Nationalelf und ein Bier in der Hand. Mit ein paar Kumpels ist er zur Avenida 9 de Julio gekommen, der Prachtstraße im Zentrum von Buenos Aires, dem Ort, an dem Fußballtriumphe gefeiert werden. Nun ist dort Verkehrschaos, zusammen mit Andrago sind noch ein paar Hundert weitere Maradona-Fans gekommen, ständig werden es mehr.

"Diego ist nicht tot, Diego ist nicht tot", singen sie, und dass er verdammt noch mal im Herzen des Volkes weiterlebt.

Seit er denken könne, sei Diego immer da gewesen, sagt Andrago. "Mit meinem Vater haben wir die Spiele im Fernsehen gesehen, auch die alten, auf Video, immer wieder." Für viele Argentinier war Maradona nicht nur ein Fußballspieler, sondern ein Teil ihres Lebens und der nationalen Identität. Das Viertelfinale bei der WM 1986 könne er auswendig, sagt Andrago, so oft habe er es gesehen. Maradona schoss damals England vom Platz, jenes Land, gegen das Argentinien vier Jahre zuvor den Krieg um die Falklandinseln verloren hatte. Zwar half er beim ersten Tor mit der Hand nach, beim zweiten aber umspielte er ein halbes Dutzend Engländer im Alleingang. Als Argentinien das Finale gegen Deutschland (3:2) gewann, waren die Jahre der Diktatur und die Wirtschaftsprobleme für einen Moment vergessen. Argentinien war Weltmeister. Und Diego war "Dios".

Dass er es blieb, trotz aller Skandale, trotz Drogenproblemen, Dopingsperren, Exzessen und Ausrutschern, das war am Ende vielleicht seine größte Leistung - und der größte Liebesbeweis seiner Fans.

Drei Tage Staatstrauer hat der argentinische Präsident angeordnet. Keine öffentlichen Feiern, alle Fahnen auf Halbmast. Der Leichnam wurde in der Casa Rosada aufgebahrt, dem argentinischen Präsidentenpalast. Am Donnerstagnachmittag war die Schlange von Leuten, die Maradona die letzte Ehre erweisen wollten, drei Kilometer lang. Als Polizisten sie auflösen wollten, kam es zu Unruhen. Einige Fans rissen die Absperrungen nieder, die Polizei setzte Gummigeschosse und Tränengas ein. Nachdem Menschen in den Innenhof eingedrungen waren, wurde der Sarg aus Sicherheitsgründen in einen anderen Saal gebracht. Um die Situation zu beruhigen, entschied die Regierung, den Zugang zu verlängern, aber noch in der Nacht zum Freitag sollte Maradona bestattet werden.

Etwas abseits des Gedränges auf der 9 de Julio saß zuvor eine Frau mit einem gerahmten Bild von Maradona. Vor langer Zeit habe sie es in einem Trödelladen gekauft. "Ich bin ein Fan von Maradona, aber nicht wegen seiner Beine, sondern wegen seines großen Herzens", sagte sie. Das Bild habe sie mitgenommen, um sich zu verabschieden: "Danach hänge ich es zurück in meine Küche."

Ob sie denn nun, wo Diego tot ist, eine Kerze unter das Bild stellen werde? Quatsch, sagt sie, an so etwas glaube sie nicht. Wer braucht Gott, wenn es D10S gibt?

© SZ vom 29.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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