Buenos Aires:"Ad10s"

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Als Maradona zu Grabe getragen wird, schlägt die Trauer in Tumulte um. In die Klage, das Volk habe sich kaum verabschieden können, mischt sich nun Angst vor den Folgen der Massenekstase.

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Quilombo nennt man es in Argentinien, wenn mal wieder etwas aus dem Ruder läuft. Wenn Fußballfans den Bus der gegnerischen Mannschaft durchschütteln, Konzertzuschauer die Bühne stürmen oder Sechsjährige auf dem Kindergeburtstag die mühsam dekorierten Räumlichkeiten zerlegen: All das ist hacer quilombo, auf den Putz hauen, Unruhe stiften, ein bisschen Ärger machen.

Allein die Tatsache, dass es für all das ein spezifisches Wort gibt in Argentinien zeigt schon, wie sehr der quilombo hier auch Teil der Volksseele ist. Und natürlich kann man Diego Armando Maradona bei all dem nicht außen vor lassen. Er war schließlich nicht nur Fußballgott, sondern auch Argentinier. Und wenn man es genau nimmt, dann ist sein Leben ohnehin ein einziger, großartiger, wahnwitziger quilombo gewesen. Auch darum haben ihn die Argentinier so geliebt.

Doch nun ist Maradona tot und beerdigt, in seiner Heimat Argentinien. Und spätestens hier muss man fragen: Hatte wirklich jemand ernsthaft mit stiller Einkehr und Gravitas gerechnet?

Dennoch diskutiert Argentinien nun darüber, was da passiert ist am Donnerstag bei der öffentlichen Trauerfeier im Zentrum von Buenos Aires. Wie es sein kann, dass da Anhänger einfach über den Zaun kletterten und mitten rein stürmten in den Präsidentenpalast, in dem Maradona aufgebahrt lag; dass selbst der Leichnam kurzzeitig in Sicherheit gebracht werden musste; dass draußen Gummikugeln durch die Luft flogen und nicht nur Trauer und Verlust die Fans zum Weinen brachte, sondern auch das Tränengas, das die Polizei in die Menge schoss.

"Schmerz, Randale, Gewalt", schreibt die Tageszeitung La Nación einen Tag später groß auf die erste Seite, "Ausschreitungen und politischer Schlagabtausch" titelt Clarín. Regierung und Opposition beschuldigen sich gegenseitig. Völlig überzogene Gewalt, Politisierung der Trauerfeier. Fans wiederum sagen, die Familie sei schuld, weil sie den Menschen nur zehn Stunden Zeit gegeben habe, sich von ihrem Idol zu verabschieden. Und dann sind da auch noch die, die fragen, ob es das alles überhaupt gebraucht habe. Gerade erst kommt Argentinien aus einer der längsten Quarantänen der Welt, Zehntausende Menschen sind dennoch am Virus gestorben, die Wirtschaft liegt am Boden. Die Infektionskurve sinkt endlich, die meisten Schulen aber sind noch geschlossen, öffentliche und private Feiern untersagt - und nun das: eine Volkstrauerparty mit Zehntausenden Fans, organisiert von der Regierung höchstpersönlich. "Wenn wir das alles nicht gemacht hätten, wäre die Sache nur noch schlimmer ausgegangen", sagt der argentinische Präsident Alberto Fernández. Denn wer hätte die Argentinier schon am öffentlichen Abschiednehmen hindern können?

Donnerstagnachmittag, Buenos Aires, Plaza de Mayo. Ein paar Stunden nach Diego Maradonas Tod sind die Menschen schon ins Zentrum gepilgert, ein paar sind gleich über Nacht geblieben, und nun ist der Platz voll. Zehntausende Fans, die "Adios" sagen wollen, oder besser: "Ad10s", wegen der 10, die immer die Rückennummer von Maradona war.

Die Fans fordern, dass Diego auf einen Geldschein gedruckt wird: natürlich auf die 10-Peso-Note

Sicherheits- und Hygieneauflagen sollen dabei natürlich gelten, so hat man sich das vorgestellt. Polizisten haben Absperrungen aufgebaut, Desinfektionsstationen, auf der einen Seite sollen die Trauernden rein in die Casa Rosada, auf der anderen wieder raus. Dazwischen schnell ein Blick auf den Sarg, nur nicht stehen bleiben. Das war der Plan.

Jetzt aber reicht die Schlange der Menschen bis runter zur Avenida 9 de Julio, drei Kilometer soll sie insgesamt lang sein, heißt es. Ein Meer aus Fahnen und Fußballtrikots. Sprechchöre und Trommeln. Am Straßenrand gibt es Grillfleisch und fettige Würste. Und es gibt auch Tränen. Genauso wie Tumulte.

Schon um sechs Uhr morgens ging es damit los, heißt es in den Nachrichten. Rangeleien mit der Polizei, Geschubse, umgeschmissene Absperrgitter, quilombo. Viele Menschen sind schon seit Stunden hier, im Morgengrauen sind sie losgefahren, in Banfield, Quilmes, Avellaneda und all den anderen Orten im Conurbano, dem Vorstadtgürtel von Buenos Aires, der genauso riesig ist wie oftmals bitterarm. Er habe noch einmal den Diego sehen wollen, sagt Pascual aus La Matanza, "danke sagen, für alles". Den WM-Sieg, die Freude und den Stolz, dass es auch einer von unten ganz nach oben schaffen kann, von einer Baracke in Villa Fiorito bis hinein in den Präsidentenpalast.

"Diego, Diego", singen die Fans. Hüpfen, drücken, drängeln, und als die Polizei eine Stunde vor dem angekündigten Ende der Trauerfeier schon mal die Zugänge abriegeln will, gerät die Situation außer Kontrolle. Tränengas und Wasserwerfer, Sicherheitskräfte feuern mit Gummigeschossen, Fans antworten mit Steinen. Das Fernsehen zeigt wackelige Handybilder von verschwitzten Fans, die sich mit Wasser aus dem Brunnen im Innenhof der Casa Rosada das Tränengas aus dem Gesicht waschen. Quilombo.

Erst heißt es, die Trauerfeier würde verlängert, aber dann will man wohl doch alles schnell hinter sich bringen. Um kurz vor 18 Uhr verlässt ein Leichenwagen die Casa Rosada, flankiert von Polizisten auf Motorrädern, gefolgt von Tausenden Fans. Ein gigantischer Korso, der auf der Stadtautobahn nach Westen fährt, winkende, weinende Menschen am Straßenrand.

Es ist noch hell, als der Leichnam dann in Bella Vista ankommt, auch das hat sich die Familie gewünscht. Das Örtchen liegt weit vor den Toren der Stadt. Eine kleine Zeremonie im Familienkreis, dann wird Diego Armando Maradona ins Grab gelassen, es liegt auf einem privaten Friedhof, neben dem seiner Eltern.

Und während im Zentrum noch aufgeräumt wird, beklagen sich im Fernsehen die Kommentatoren und Fans: Viel zu schlecht sei das alles organisiert gewesen - und viel zu kurz. "Bei Evita und Perón haben die Trauerfeiern Tage gedauert", sagt ein Fan. "Wir aber hatten nur ein paar Stunden Zeit, um uns von Diego zu verabschieden. Wie soll das gehen?" Andererseits: Die Leiche von Evita wurde nach ihrem Tod entführt, und ihrem Ehemann Juan Perón, dem Begründer des Peronismus, wurden immerhin nach seinem Ableben noch die Hände abgehackt. So gesehen könnte man sagen: Das Begräbnis von Diego Armando Maradona war ein voller Erfolg.

Nun ruht Diego Maradona also in Frieden, Ruhe aber, das ist auch klar, gibt es noch lange nicht. Im Netz fordern Fans jetzt schon, dass Diego auch auf einen Geldschein gedruckt wird. Evita prangt auf den 100-Peso-Noten, für Diego müsste es natürlich der Schein mit der "10" sein, auch wenn der wegen der Inflation schon fast nichts mehr wert ist.

© SZ vom 29.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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