Abfahrt in Bormio:Endlich wie im Training

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On the rocks - und auf den Punkt: Aus dem Trainingsweltmeister Cyprien Sarrazin ist in Bormio ein Siegfahrer geworden. (Foto: Fabrice Coffrini/AFP)

Der Franzose Cyprien Sarrazin gewinnt auf der Stelvio seine erste Weltcup-Abfahrt und legt den Ruf ab, in alpinen Skirennen nie sein volles Potenzial auszuschöpfen. Marco Odermatt hingegen muss weiter warten.

Von Felix Haselsteiner, Bormio/München

Den Platz an der Sonne kennt Cyprien Sarrazin bestens. An zahlreichen großen Orten hat der 29-Jährige bereits geführt, manchmal sogar bis zum Ende. In Kitzbühel, Gröden, Lake Louise und Beaver Creek etwa war das der Fall, am zweiten Weihnachtsfeiertag dieses Jahres auch in Bormio. Die Problematik für Sarrazin war nur, dass er seine besten Läufe immer im Training zeigte. Das bringt einem unter den Kollegen zwar einen ehrenwerten Ruf als talentierter Fahrer ein, aber eben keine Pokale und Medaillen - an denen fuhr der Franzose ein ums andere Mal vorbei. Bis ihm nun im Zielraum der Stelvio die lombardische Sonne auch während eines solchen Rennens mal ins Gesicht strahlte.

Eine Fabelzeit hatte er zuvor hingelegt auf einer der berüchtigten Strecken des Abfahrtsweltcups, die sich vor ein paar Tagen aufgrund der hohen Temperaturen noch verhältnismäßig freundlich präsentiert hatte, bis rechtzeitig noch eine kalte Nacht die gewohnten, eisigen Bedingungen brachte. On the rocks fährt man in Bormio, heißt es, so wie man einen guten Cocktail serviert. Einige Fahrer bekamen das aufgrund geringer Schneemengen sogar im Wortsinn zu spüren: Bei Aleksander Aamodt Kilde und bei Vincent Kriechmayr verhinderten kleine Steine auf der Strecke bessere Ergebnisse - auch davon profitierte am Ende Sarrazin.

2,91 Sekunden vor Andreas Sander kam er ins Ziel, der zu diesem frühen Zeitpunkt im Rennen führte und letztlich als bester Deutscher 19. wurde (Romed Baumann schied aus, Simon Jocher wurde 21., Josef Ferstl 39.). Als eine klare Ansage an die vielen Favoriten, die die Fahrt von weiter oben begutachteten, konnte man die Fahrt des Franzosen verstehen. Und während Steine manche Aufholjagd verhinderten, reagierte einer prompt. Von Streckenabschnitt zu Streckenabschnitt duellierte sich Marco Odermatt mit der Zeit von Sarrazin, hatte am Ende allerdings neun Hundertstelsekunden Rückstand. Eine "perfekte Fahrt" sei das gewesen, sagte Odermatt später: "Aber einer war schneller."

Der Österreicher Marco Schwarz stürzt schwer und wird mit dem Rettungshubschrauber abtransportiert

Die bemerkenswerte Geschichte des zweimaligen Gesamtweltcupsiegers setzte sich damit fort, der zwar 27 Weltcupsiege in Riesentorläufen und Super-G vorzuweisen hat inzwischen, aber keinen in der Königsdisziplin Abfahrt. "Ich weiß gar nicht mehr, der wievielte Podestplatz das jetzt ist, mit ein paar Hundertstel Rückstand", sagte Odermatt, der als Zweiter aber immerhin die Führung in der Gesamtwertung übernahm - auch weil sein größter Konkurrent eine tragische Geschichte schrieb. Der Österreicher Marco Schwarz, in dieser Saison mit der Mission angetreten, in allen Disziplinen zu fahren, um Odermatt anzugreifen, stürzte im unteren Teil schwer und musste per Helikopter geborgen werden. Die Diagnose für den bis dato Führenden im Gesamtweltcup folgte am Abend: Kreuzbandriss im rechten Knie.

Seine Bergung erforderte eine lange Unterbrechung, die Sarrazin auf dem roten Stuhl des Führenden verbrachte - wo er womöglich Gelegenheit fand, um über seine lange Karriere bis zu diesem ersten wirklich großen Sieg nachzudenken. Schon einmal hatte er im Weltcup vorn gestanden, im Parallel-Riesenslalom von Alta Badia 2016. Danach folgten Jahre voller Verletzungen und Misserfolge, die allerdings in der Entscheidung mündeten, dass er sich mehr und mehr den Speed-Bewerben widmete.

Sein Talent für die Abfahrt blitzte immer wieder auf, in Trainingsläufen und gelegentlich auch in Rennen: In Gröden fuhr er 2022 mit Startnummer 61 noch auf Rang sechs, bei der ersten Abfahrt dieser Saison Mitte Dezember wurde er - erneut in Gröden - überraschend Vierter. Das brachte ihm den besseren Startplatz ein und führte letztlich zu jenem Urschrei, mit dem Sarrazin im Ziel seine Fahrt zelebrierte.

Ein Athlet nach dem anderen schaute danach bei ihm vorbei, um ihm herzlich zu seinem Sieg zu gratulieren: Dominik Paris umarmte ihn, Kilde unterhielt sich länger, der 39-jährige Adrien Theaux fiel ihm in die Arme. Und selbst Odermatt schien damit leben zu können, dass ihm wenigstens einer wie der sympathische, talentierte, geduldige Cyprien Sarrazin seinen ersten Abfahrtssieg vor der Nase wegschnappte. Einer, von dem immer alle gewusst hatten, dass er ganz vorne mitfahren kann - er hat es im Training schließlich oft genug bewiesen.

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