Biathlon:In der Not summt die Bohrmaschine

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Der beste Biathlet der Welt: Johannes Thingnes Bö aus Norwegen übt seinen Beruf mit ganzer Leidenschaft aus - und jubeln kann er auch. (Foto: Anders Wilklund/TT/Reuters)

Gesamt-Weltcupsieger Johannes Thingnes Bö ist ein Biathlon-Verrückter: Er tüftelt mit größter Leidenschaft an jedem Detail - doch wie viel ist zu viel?

Von Saskia Aleythe, München

In seiner letzten Verzweiflung griff er zur Bohrmaschine. Nicht manisch, aber doch mit etwas verrücktem Eifer - welcher Biathlet fräst schon selber an seinem Gewehr herum, kurz vor dem entscheidenden Weltcup-Wochenende? In der Unterkunft von Johannes Thingnes Bö in Östersund lag die Bohrmaschine in der Waschküche herum, und da kann man als Mann in der Biathlon-Corona-Blase, seit Monaten unterwegs, offenbar auf spezielle Gedanken kommen. Bö bohrte also, hier ein Loch, dort ein bisschen Holz am Schaft weg, das Ziel: Die Arme nicht mehr ganz so strecken zu müssen, wenn er am Schießstand steht, Spannung aus dem Körper bekommen, wenn die Lunge bebt.

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All die Spannung löste sich dann tatsächlich, am Sonntagabend nach dem Saisonfinale in Mittelschweden: Einen lauten Jubelschrei schickte Bö in die Lüfte, nachdem es ihm doch noch geglückt war: zum dritten Mal in Serie konnte er die Gesamtwertung für sich entscheiden. Bis zum Ende musste er darum bangen, doch jetzt trägt er weiter seinen Titel: Bö ist der beste Biathlet der Welt. Allerdings einer, der für seine Verhältnisse in diesem Winter häufiger stolperte als zuvor - und bis zum allerletzten Schuss diesen fast unverschämt souveränen Rookie aus dem eigenen Lager im Nacken hatte: Sturla Holm Lägreid, 24 Jahre alt.

Am Ziel: Johannes Thingnes Bö präsentiert seinen Saison-Lohn - die große Kristallkugel. (Foto: Anders Wiklund/TT/Reuters)

Er hatte Bö schon bei der Weltmeisterschaft in Slowenien mit vier Goldmedaillen die Show gestohlen, wurde nun im Weltcup mit sieben Siegen gleich mal Zweiter - das alles in seiner Premierensaison. Das ist so besonders, dass man es langsam aussprechen sollte: Preeemieeerensaison. "Er hat mich an meine Grenzen gebracht", sagte Bö, nachdem er die große Kristallkugel zum Kuscheln in Empfang genommen hatte, "da waren viele Schmerzen nötig, um das zu gewinnen." Mit einem winzigen Punkt hatte Lägreid vor dem entscheidenden Massenstart in Östersund sogar noch in Front gelegen - doch dann passierte das Seltene in diesem Winter: Bei stürmischen Verhältnissen schoss er vier Fehler, einen mehr als Bö. Bö kam als Dritter ins Ziel, Lägreid als Achter, 13 Punkte trennten sie schließlich voneinander. "Ich denke nicht, dass ich enttäuscht sein darf", sagte Lägreid dem norwegischen Fernsehen, "was ich dieses Jahr erreicht habe, ist völlig verrückt." Noch in der Vorsaison war er im zweitklassigen IBU-Cup unterwegs, Waffensponsor: Onkel und Tante.

Er sei der mutigste Mann, den er kenne - sagt sein Schießtrainer

Bös Bohrungen für die spät geglückte Wende verantwortlich zu machen, wäre gewagt, noch am Samstag hatte er in der Verfolgung wie ein Fähnchen im Wind gewackelt und mit drei Strafrunden im letzten Schießen den Sieg an Lägreid verloren. Doch seine Bastelei passt ins Bild dieser Saison. Bö hat sich verdammt viel mit seiner Waffe beschäftigt, ach was: mit seinen Waffen. Und das Experimentieren kostete viel Energie.

Es gehe auch zu Hause immer nur um Biathlon, hat seine Frau einmal gesagt, noch bevor Sohn Gustav geboren wurde. Nur so kommt man vermutlich zu 24 WM-Medaillen mit 27 Jahren - und mit dem Streben, immer noch mehr zu wollen. Als Martin Fourcade 2020 seine Karriere beendete, war sein härtester Konkurrent um den Gesamtsieg plötzlich nicht mehr da. Bö hätte problemlos so weitermachen können wie zuvor: Auf der Strecke läuft er der Konkurrenz immer davon, auf 89 Prozent Trefferquote kam er im Vorjahr. Doch Bö legte seine goldene Waffe ab, ließ sich im Sommer ein neues Modell bauen - das er kurz vor der WM in Slowenien wiederum durch ein anderes ersetzte. Ein gewagtes Unterfangen, er traute sich erst gar nicht, seinem Schießtrainer Siegfried Mazet davon zu erzählen. Es braucht Zeit, sich an eine Waffe zu gewöhnen und sich mit ihr wohl zu fühlen. Er sei der mutigste Mann, den er kenne, sagte Mazet.

Der Druck, den Lägreid ausübte, machte Bö zu schaffen

Ein Gefühl für sein Arbeitsgerät zu entwickeln, ist nichts, was sich beschleunigen lässt wie das Tempo auf der Schlussrunde, das weiß nun auch Bö: Bei der WM schoss er immer mindestens zwei Fehler, im Massenstart sogar fünf - am Ende blieben nur Bronze in der Verfolgung und drei Staffel-Medaillen übrig, auf Norwegisch also: quasi nichts. Es sei nicht seine WM gewesen, sagte Bö, während sein junger Kontrahent zum Medaillenkönig avancierte. Der Druck, den Lägreid ausübte, war groß, "darauf war ich nicht vorbereitet", sagte Bö. Lägreids Trefferquote in dieser Saison lag bei 92 Prozent, Bö rutschte auf 85 ab. "Er hat der Sportwelt gezeigt, dass man jedes Rennen so gut schießen kann", sagte Bö noch in Östersund, "ich habe eine große Motivation, mit ihm für die kommende Saison zu trainieren." Auch wenn jeder für sich kämpft, ist der Sportsgeist groß im norwegischen Team, auch das war bemerkenswert an diesem Saisonfinale.

Glücklich, erschöpft, vor allem erleichtert war Bö, nachdem ihm doch noch die große Kristallkugel überreicht wurde. Sie hatte er die ganze Zeit im Kopf gehabt, oft nicht die einzelnen Rennen, auch das sei ein Fehler gewesen, meinte Bö. Das sind viele Lektionen für die anstehende Olympia-Saison, in der er natürlich auch wieder mit Lägreid rechnet: "Ich weiß, er wird nächstes Jahr noch besser sein." Und dass dieser Neuling auch ein gewiefter Bursche ist, weiß man jetzt: Nach der WM konnte man Lägreid für den verrückten Professor halten, der nicht nach Hause flog nach all den Strapazen, sondern nur kurz mit dem Auto weiter nach Österreich - zum Trainieren. Er habe zu Hause keine Freundin, die auf ihn warte, sagte er damals, wurde nun in Östersund aber beim Turteln mit einer US-Biathletin gesichtet: "Ich bin bei ihr in Ramsau geblieben, jetzt ist die Katze aus dem Sack."

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