Jule Niemeier:Mit Notizbuch und Petkovic

Lesezeit: 3 min

"Es war eine lehrreiche Zeit": Jule Niemeiers Serie von Erstrundenniederlagen findet in Berlin ein Ende. (Foto: Luciano Lima/Beautiful Sports/Imago)

Jule Niemeier schlägt beim Tennisturnier in Berlin die Topspielerin Ons Jabeur und hofft auf eine erfolgreiche Rasensaison. Unterstützt wird sie von der Mentorin Andrea Petkovic - und einem handschriftlich verfassten Buch.

Von Barbara Klimke, Berlin

Lektüre beim Tennisspielen wird manchmal unterschätzt. Es muss nicht gleich ein dickes Fachbuch sein wie das bei Klubspielern mit destruktiver Ader geschätzte "Winning Ugly" von Brad Gilbert, ein Klassiker für allerlei Gemeinheiten auf dem Platz. Mehr bewirkt oft aufbauender Lesestoff, oft reicht dafür ein Zettel. Unvergessen ist das gefaltete Blatt Papier, das Pete Sampras einst in Wimbledon zwischen den Ballwechseln aus seiner Tennistasche zog und studierte: ein Brief von seiner Frau Bridgette, wie sich später erwies. Sampras hat damals, 2002, als siebenmaliger Wimbledonsieger das Match gegen George Bastl, Schweiz, zwar trotzdem verloren; doch ein paar Monate später eroberte er in New York im Triumph seinen 14. Grand-Slam-Pokal. Der Motivationszettel als pädagogisches Hilfsmittel im Filzball-Business trat spätestens damals seinen Siegeszug an. Und Sampras' Rekord hielt so lange, bis die Ära der so genannten Großen Drei im Tennis anbrach.

Es war also ein rundweg positives Zeichen, dass Jule Niemeier aus Dortmund, 23 Jahre alt, sich diese Woche beim Rasenturnier in Berlin während eines Seitenwechsels in ein Buch vertiefte. Sie spielte als Nummer 120 der Rangliste gerade gegen die Tunesierin Ons Jabeur, die Nummer sechs der Welt und letztjährige Finalistin sowohl in Wimbledon als auch in Flushing Meadows. Nach fahrigem Beginn und bereits zwei abgewehrten Satzbällen lag Niemeier zu diesem Zeitpunkt 4:5 zurück. Am Ende der 90-Sekunden-Pause klappte sie die Buchseiten zu. Dann stand sie auf, gewann zwei Spiele in Serie, den Tiebreak, den Satz und schließlich auch das Match. 7:6 (4), 6:4. In der ersten Berliner Rasen-Runde hatte Niemeier die Titelverteidigerin aus dem Turnier gefegt.

Falls es eines weiteren Beweises bedurfte, dass Lesen hilft, auch bei Stellungsspiel-, Schmetterball- und Aufschlagfragen, so lieferte Jule Niemeier diesen eindrucksvoll auf dem Platz. "In das Buch", sagte Christopher Kas, 43, ihr Trainer später, "schaut sie regelmäßig." Zum Inhalt nur so viel: Es ist nichts, was Hobbyspieler im Buchhandel erstehen könnten, sondern ein Unikat, von Niemeier handschriftlich verfasst. "Was wir vorher im Team erarbeitet haben, das schreibt sie auf", sagt Kas, "sie ist da akribisch." Die Notizen konsultiere sie dann in kritischen Phasen. Kas sieht mit Freude vom Seitenrand aus, dass die junge Profispielerin in der Lage ist, mit sich selbst zu Rate zu gehen und Entscheidungen zu fällen, ohne auf Zurufe aus der Spielerbox zu warten. Nebenbei trage die konzentrierte Sekundenlektüre auf der Bank auch zur Beruhigung der Nerven bei.

Zwölf Erstrundenniederlagen stehen seit Januar zu Buche

Denn Jule Niemeier, die sich im vergangenen Jahr unbeirrt durch eine fabelhafte Saison spielte und als Debütantin das Viertelfinale von Wimbledon erreichte (6:4, 2:6, 5:7 gegen ihre Teamkollegin Tatjana Maria), erlebte zuletzt, vorsichtig ausgedrückt, ernüchternde Wochen und Monate. Zwölf Erstrundenniederlagen stehen seit Januar zu Buche; zuletzt reiste sie nacheinander aus Rom, Florenz, Paris und Nottingham schon jeweils nach einigen kurzen Ballwechseln im Wettbewerb wieder ab. Dazwischen gelang ihr unter anderem der Coup, in Madrid die dreimalige Turniersiegerin Petra Kvitova zu schlagen.

Dass nun dieses eine Match auf Rasen, der Berliner Sieg gegen Jabeur, gleich die 180-Grad-Wende einleiten wird, glaubt sie nicht. Dazu ist sie als Profi zu realistisch - denn auch ihre Hoffnung auf das Ende der Misserfolgsserie in der Sandplatzsaison ist im Frühjahr unerfüllt geblieben: "Letztes Jahr hatte ich auch auf Sand gut gespielt und es dieses Jahr trotzdem nicht richtig hinbekommen", sagte sie. "Es ist gut zu wissen, dass ich letztes Jahr auf Rasen gut gespielt habe. Nichtsdestotrotz fängt es wieder bei null an."

Zuversicht schöpft sie aus der Gewissheit, die richtigen Leute um sich versammelt zu haben: "Ich bin stolz aufs ganze Team, dass wir drangeblieben sind und weitergearbeitet haben", sagte sie ernst. Dazu gehören neben Kas auch Physio- und Fitnesstrainer Florian Zitzelsberger und Coach Michael Geserer, mit dem sie in Regensburg zusammenarbeitet. Der Beraterkreis wurde kürzlich noch durch eine Expertin mit speziellem Insiderwissen erweitert: Andrea Petkovic, 35, die der Deutsche Tennis-Bund nach ihrem Karriereende als "Mentorin für die neue Generation" gewinnen konnte, sitzt mitunter nun auch bei Jule Niemeiers Matches in der Spielerbox. Was deren Erfahrungsschatz im Einzelfall wert ist, hat Niemeier, die nie zuvor gegen Ons Jabeur gespielt hatte, dem Berliner Publikum gleich nach dem Matchball verraten. Denn da hat ihr die ehemalige Kollegin Petkovic - bei drei Duellen ihrerseits - einiges voraus. Aufschlag, Rhythmuswechsel, Rasanz des Spiels: Die Vermittlung solcher Details sei von enormem Wert gewesen, fand Niemeier und brachte den Vorteil auf die für Laien einprägsame Formal: "Petko wusste, wie sich die Schläge anfühlen." Auch Kas schätzt diesen Austausch mit Petkovic.

Und letztlich, auch das verhehlte sie nicht, lässt sich sogar aus einer langen Niederlagenserie Gutes gewinnen: Aus leidvoller Erfahrung weiß sie jetzt, wie sie in engen Momenten des Spiels mit den Situationen umgehen müsse: "Deshalb glaube ich, dass es eine sehr lehrreiche Zeit war in den letzten Wochen und Monaten." All das hat Einzug gefunden in ihr Journal: in das Logbuch für die Gefahrenzonen auf dem Platz. Womöglich wird es schon im Achtelfinale in Berlin gegen die Tschechin Marketa Vondrousova wieder zum Einsatz kommen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Tim Pütz und Miyu Kato bei den French Open
:Zufällig Grand-Slam-Sieger

"Miyu, ich bin der Tim. Wollen wir zusammen spielen?" Nach einer umstrittenen Disqualifikation und einer kuriosen Begegnung treten der Deutsche Tim Pütz und die Japanerin Miyu Kato im Mixed an - und gewinnen plötzlich das Turnier.

Von Gerald Kleffmann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: