Bayer Leverkusen:Luftnummer

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Ungewohnter Matchwinner: Alexandar Dragovic (Mitte) nach seinem Siegtor in Bielefeld. (Foto: Friedemann Vogel/Getty)

Leverkusen steckt in Bielefeld das Eigentor des Jahres weg und sammelt weiter klammheimlich Punkte. Neu im Repertoire: der schmucklose Arbeitssieg.

Von Milan Pavlovic

Oliver Kahn hat in seiner schillernden Karriere viele Glanzparaden und einige eigentümliche Aktionen im Affekt gezeigt: Er hat an einem Pfosten gesessen, eine Eckfahne begattet, einem Gegner fast in den Hals gebissen. Aber eine Episode wird nicht oft genug erwähnt: Wie er Markus Babbel 1997 in der Champions League ein Eigentor einbrockte, das man nicht alle Tage sieht. Beim Versuch, einen soften Rückpass zu stoppen, hielt Kahn den linken Fuß etwas nachlässig hin, weshalb der Ball über eine Unebenheit des Rasens dreisterweise ins Tor hoppelte. Kahn dürfte froh sein, dass das Spiel (0:1 gegen IFK Göteborg!) nahezu vergessen ist, vermutlich auch, weil die Ausschnitte im Internet qualitativ so hundsmiserabel sind, dass man kaum etwas erkennt.

Leverkusens finnischer Torwart Lukas Hradecky hat dieses Glück nicht. Sein Eigentor in Bielefeld wurde aus allen möglichen Winkeln gefilmt. Es wird sich schnell seinen Weg durch die Computer-Welt bahnen. "Es wird einige Youtube-Clips und Memes geben", sagte der Torwart nach Spielende bei Sky, "die Leute dürfen ein bisschen lachen darüber."

In Bielefeld spielte Bayers Linksverteidiger Sinkgraven den Ball soft zurück zu seinem Torwart, der Zeit genug gehabt hätte, die Kugel zu stoppen, sich vorzulegen, Zwischenstände auf den anderen Plätzen zu erfragen, etwas ganz Banales zu tun also. Stattdessen wollte der Finne das Spiel mit einem Direktpass schnell machen. Er tippte dabei aber den Ball ungewollt mit der linken Fußspitze an, nur ganz leicht zwar, jedoch entscheidend, um ihn drei, vier Zentimeter anzuheben, so dass Hradecky mit dem rechten Fuß in ein mächtiges Luftloch trat - und der Ball beinahe höhnisch über die Torlinie kullerte. "Klar ist das ein Scheißgefühl", sagte Finnlands Nationaltorwart, "aber wir haben den Kopf nicht hängen lassen, und die Mannschaft hat mir geholfen." Sie sorgte durch das späte 2:1-Siegtor dafür, dass Bielefeld das Kunststück verwehrt wurde, ohne eine eigene Torchance ein 1:1 mitzunehmen.

Drei Spieler, die nicht mehr zur ersten Elf gehören, bescheren dem Werksklub spät den Sieg

Bis zu diesem Ausgleich in der 47. Minute war Bayer auf dem Weg zu einem extrem schmucklosen Pflichtsieg in Bielefeld, das defensiv viel besser sortiert war als zuletzt, aber offensiv die Gefährlichkeit eines Vierjährigen ausstrahlte, der gegen Erwachsene kickt. Arminias Zweitliga-Goalgetter Fabian Klos traf eher als den Ball die Leverkusener Bender-Zwillinge, die beide ausgewechselt werden mussten. Auch auf Leverkusener Seite suchte man Glanz oder Spektakel vergeblich. Es war ein frustrierender Kick - da kam Hradecky gerade recht.

Zum Gefühl der perfekten Inszenierung trug der Spielverlauf bei. Bayer war nach dem 1:1 (47. Minute) und dem Aus der Bender-Zwillinge angeknockt. Das war verständlich, irgendwann ist auch die komfortabelste Spielerdecke zerfranst, wenn Verletzungen hochkarätiger Spieler den Kader ausdünnen und nach Länderspielreisen wieder ein paar Akteure von der Aktivenliste gestrichen werden müssen. Ein halbes Dutzend nomineller Stammspieler fehlte, unter der Woche hatte Verteidiger Edmond Tapsoba das Coronavirus von zwei Spielen für Burkina Faso gegen Malawi ins Rheinland zurückgebracht.

Am Ende bügelten nach bewährter Drehbuch-Logik drei Spieler Hradeckys Malheur aus, die bei Trainer Peter Bosz sonst kaum noch Hauptrollen einnehmen. Vor dem späten Siegtor gewann der zuletzt oft belächelte Jonathan Tah ein Luftduell, der Schuss des beinahe ausgemusterten Mitchell Weisers konnte soeben pariert werden, und dann setzte der unbedingt wechselwillige Innenverteidiger Alexandar Dragovic den Ball mit dem rechten Fuß (und mit Köpfchen) ins Eck. Bielefelds gefrusteter Torwart Stefan Ortega nannte "das für uns typische Gegentor" nach der sechsten Arminia-Niederlage in Serie ungerechterweise einen "schimmeligen Nachschuss".

Tatsächlich hat Bayer 04 in der laufenden Saison gezeigt, dass es dazugelernt hat. Es ist kein Zufall, dass das Team ungeschlagen ist und zuletzt fünf Liga-Spiele hintereinander gewonnen hat: Es kann zwar immer noch herzerfrischenden Spektakel-Fußball bieten, wenn der Gegner das zulässt - so wie vor zwei Wochen beim 4:3 gegen Gladbach -, aber es hat gelernt, geduldiger gegen tief stehende Klubs zu agieren. Gerade wenn so viele Spiele anstehen, so viele Spieler ausfallen und so viel improvisiert werden muss, ist es lebenswichtig, den schmucklosen Allerweltssieg im Repertoire zu haben. Wenn man ihn mit zirkusreifen Einlagen à la Hradecky schmücken kann, die den Klub im Gespräch halten, ist das umso wirkungsvoller.

Nur die Absprachen müssen besser werden. Als er über seinen Fehltritt wieder schmunzeln konnte, kündigte Hradecky als ultimative Geste für Dragovic an: "Heute gönne ich ihm so viel Bier, wie er will." Dabei trinkt der Österreicher gar kein Bier.

© SZ vom 23.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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