Fußball-WM:Das sind die unbekannten Überflieger aus Down Under

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Sie konnten es wohl selbst kaum glauben: Australiens Siegtorschütze Mathew Leckie (links) und "Socceroo"-Teamkollege Riley McGee. (Foto: John Sibley/Reuters)

Australiens Spieler zählen ausnahmslos zur fußballerischen Mittelschicht. Trotzdem stehen sie im WM-Achtelfinale - und ihr Trainer bezeichnet sie schon als "goldene Generation".

Von Thomas Hürner

Bemerkenswert am Fußball ist, dass es dort bislang keine letzten Generationen gibt, die sich an Torpfosten kleben, um den Spielbetrieb zum Erliegen zu bringen. Im Fußball ist eher von "goldenen Generationen" die Rede - und die steuern, so viel ist bekannt, in der Regel auf zwei mögliche Schicksale zu. Erstens: Sie erfüllen die hochgesteckten Erwartungen und ziehen unter Fanfarenklängen ins klub- oder landeseigene Fußball-Pantheon ein. Zweitens: Sie scheitern und enttäuschen damit die Fans auf unverzeihliche Weise.

Das Nationalteam Australiens, auch geläufig unter dem Beinamen "Socceroos", hat sich am Mittwoch durch einen 1:0-Sieg gegen Dänemark schnurstracks in Richtung nationales Fußball-Pantheon aufgemacht. Die Begeisterung über die daraus resultierende Qualifikation fürs WM-Achtelfinale erreicht nahezu ekstatische Dimensionen auf dem fünften Kontinent, in dem der Soccer weiterhin eigentlich eher als Nischensport gilt.

Australien steht erst zum zweiten Mal im WM-Achtelfinale

Wobei: Hat sich da womöglich etwas getan? Denn obwohl das Spiel erst kurz nach Mitternacht Ortszeit angepfiffen wurde, strömten in Metropolen wie Melbourne später Zehntausende auf die Straßen, um das Weiterkommen zu feiern. Sogar das angeblich nur in traditionellen Fußballländern beliebte Ritual des Pyrofackelnzündelns wurde auf Bildern dokumentiert.

Ja, vielleicht hatte der australische Nationalcoach Graham Arnold wirklich recht damit, als er seiner Mannschaft unmittelbar nach dem Triumph den Status der "goldenen Generation" verlieh, die "noch einiges" vorhabe. Das empfanden offenbar nicht mal jene Ex-Profis als voreilig, die nun ihren Ehrenplatz in der australischen Ahnengalerie teilen müssen. "Over the Moon!", twitterte zum Beispiel der ergriffene Harry Kewell, der schließlich weiß, wie es ist, wenn man in Down Under als Überflieger angesehen wird: Kewell gilt als der beste Kicker der australischen Fußballgeschichte, er war Champions-League-Sieger mit dem FC Liverpool und 2006 in Deutschland dabei, als es die Australier zum ersten und bis Mittwoch einzigen Mal bei einer WM unter die besten 16 Teams schafften. Damals schieden sie erst in der Nachspielzeit gegen den späteren Weltmeister Italien aus, weil Francesco Totti einen bis heute umstrittenen Elfmeter mit unbarmherziger Wucht ins Netz drosch.

Kewell, Totti, Achtelfinale: Diese klangvollen Richtgrößen waren vor Turnierbeginn nicht unbedingt zu erwarten, wenn man einen Blick auf das Potenzial der Gruppengegner und den australischen Kader warf. Bei einem europäischen Spitzenklub steht keiner der Akteure unter Vertrag, die Socceroos des Jahres 2022 gehören allesamt der fußballerischen Mittelschicht an - und das bedeutet, zumal im globalen Kontext einer Weltmeisterschaft, dass so einige Spieler darunter sind, deren Lebensläufe nur deshalb spannend wirken, weil sie so gewöhnlich sind.

Der Chef im Mittelfeld ist ausgerechnet ein bekennender Hipster: Jackson Irvine vom FC St. Pauli

Der Flügelmann Mathew Leckie etwa, der am Mittwoch per Linksschuss den entscheidenden Treffer erzielte: Er spielte ein Jahrzehnt lang für den FSV Frankfurt, Gladbach, Ingolstadt, Hertha BSC und siedelte vor wenigen Monaten zurück nach Melbourne über, ohne dass es in Deutschland jemand bemerkt hätte. Bei einem derartigen Mangel an prominenten Namen drängt sich natürlich der Verdacht auf, dass da einige Fußballer im australischen Team sein müssten, deren Prominenz noch in der Zukunft liegt. Doch auch da wiegeln professionelle Branchenkenner hastig ab: Nein, da ist aktuell wirklich keiner dabei - und wenn dem so wäre, dann müssten sich die Branchenkenner des Schlendrians in Tateinheit mit Unwissenheit schuldig bekennen.

Die Australier sind vielmehr eine klassische Trainermannschaft, die von Coach Arnold nach klaren fußballerischen Prinzipien dirigiert wird. Hinten, so die oberste Maxime des früheren Nationalspielers, soll erst einmal die Null verteidigt werden, der Rest ergibt sich aus dem laufenden Spielbetrieb. So errangen die Socceroos in der Vorrunde die beiden 1:0-Arbeitssiege gegen Tunesien und nun gegen die Dänen. Praktiziert wird unter Arnold ein flaches 4-4-2-System in Retro-Anmutung, in dem ausgerechnet ein bekennender Hipster über die Richtlinienkompetenz verfügt: Mittelfeldmann Jackson Irvine vom Zweitligisten FC St. Pauli. Der 29-jährige Schnauzbartträger ist auf dem Rasen zwar einer, der mit rabiaten Grätschen gerne mal ein sogenanntes Zeichen setzt. Davon abgesehen führt er aber ein betont friedfertiges Leben.

Politisch kann man ihn guten Gewissens im alternativen Linksmilieu verorten, weshalb er perfekt zur ideologischen Ausrichtung seines Arbeitgebers passt. Und damit auch in den Hamburger Stadtteil St. Pauli, denn das ist ja praktisch dasselbe. Irvine mischt sich nach Spielen häufig unters rebellische Volk, in den Gesprächen geht es dann nicht nur um Fußball, sondern auch um Themen wie Nachhaltigkeit, Konsumkritik oder all die Menschenrechtsfragen im WM-Gastgeberland Katar.

Gut möglich aber, dass sich die Kiezkneipen-Besucher demnächst nach etwas anderem bei Irvine erkundigen: Na, wie war's im Achtelfinale gegen Messi und die Argentinier?

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