1860 München:1860 München schaut in den Schlund der dritten Liga

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Stefan Aigner vergab die besten Chancen zum Sieg gegen Braunschweig. (Foto: Johannes Simon/Getty Images)
  • Der TSV 1860 verliert zu Hause gegen Braunschweig und rutscht auf den Relegationsrang ab.
  • Ein Wortgefecht zwischen 1860-Trainer Vitor Pereira und Eintracht-Coach Torsten Lieberknecht sorgt für Aufregung.
  • Die Tabelle und die Ergebnisse der zweiten Liga finden Sie hier.

Von Philipp Schneider, München

Es ist nicht so, als wäre Vitor Pereira ein Freund der vielen gezeichneten Linien auf dem Fußballrasen. Meistens sind sie diese Linien sogar seine Feinde. Jene Markierungen beispielsweise, die den Rand der sogenannten Coaching-Zone markieren und so ein imaginäres Gefängnis für den Portugiesen mit seinem großen Bewegungsdrang schaffen. Erst der Schlusspfiff markiert in der Regel jenen Moment, in dem der Trainer des Zweitligisten TSV 1860 München aufs Spielfeld läuft und dort seinen Spielern gratuliert. Oder sie tröstet. In seiner Zeit in München, das lässt sich nun so sagen, gab es das zweite Szenario bisher wesentlich häufiger.

Als am Sonntag dieses 0:1 gegen Braunschweig abgepfiffen wurde, blieb Pereira allerdings stehen, obwohl ihn niemand mehr hielt. Die Füße akkurat an der Seitenlinie postiert, stand er einfach regungslos da. Fünf, sechs Minuten verharrte er so. Als würde gleich ein Reisebus halten, die Türen öffnen und Pereira würde wegfahren. An einen schöneren Ort. Pereira fuhr allerdings nirgendwo hin, es kam aber auch niemand zu ihm. Pereira stand einfach dort und starrte irgendwo hin. Möglicherweise direkt in einen tiefen Schlund, der sich nun in seinem Geiste auftat, und von dem er noch nie gehört haben wird in seiner Zeit beim FC Porto und bei Fenerbahce Istanbul: in den Schlund der dritten deutschen Fußballliga.

Fünftes siegloses Spiel in Serie

Was er in diesem Moment erlebt habe, sei die "Verarbeitung des Unfassbaren" gewesen, sagte Pereira später. Zu diesem Zeitpunkt war 1860 drei Spieltage vor Ende der Saison auf den Relegationsplatz abgerutscht. Als unfassbar bezeichnete Pereira - der den Fans an seinem ersten Arbeitstag in München noch versprochen hatte, 1860 gehe "to the top" - das Prinzip, "die klar bessere Mannschaft" gewesen zu ein, die "ihre Chancen einfach nicht nutzt". Das mochte sein, allerdings: Wie konnte etwas überhaupt länger unfassbar sein, wenn es doch immer und immer wieder geschieht? Vor einer Woche erst, beim 0:1 in Kaiserslautern?

Wegen eines Treffers von Braunschweigs Christoffer Nyman in der 55. Minute, nach dem fünften sieglosen Spiel nacheinander und vor allem wegen einer Vielzahl vergebener Gelegenheiten, wird es mal wieder ziemlich knapp werden für 1860, auch in diesem Jahr den Klassenverbleib noch zu sichern. Auf zwei Positionen änderte Pereira seine Startelf im Vergleich zu jener, die in Kaiserslautern verloren hatte: Sebastian Boenisch und Kai Bülow rückten in die Abwehr für den gelbgesperrten Abdoulaye Ba und für Felix Uduokhai, der über muskuläre Probleme im rechten Oberschenkel klagte. Ansonsten bot der Trainer wieder jenes von ihm so geliebte 3-4-3 auf, mit dem Sechzig an guten Tagen mit Tempo über die Flügel spielt. Über den schnellen Amilton auf rechts, und über Stefan Aigner auf links. Dass Aigner nach 60 Sekunden und einem wüsten Kontakt mit Omladic erstmals Gelb sah, sollte sich nicht negativ auf seine Risikofreudigkeit auswirken.

Hitziges Wortgefecht der Trainer

Hitzig war die Partie zunächst nur an der Seitenlinie. Als zwei Münchner am Boden lagen und Schiedsrichter Sören Storks weiterlaufen ließ, geriet Pereira mit Braunschweigs Trainer Torsten Lieberknecht verbal heftig aneinander. Offenbar damit er dem portugiesischen Kollegen und seinem Betreuerteam besser lauschen konnte, rückte Lieberknecht weit außerhalb seiner Coaching-Zone. Später berichtete er von einer "beschämenden Situation", "Worten unter der Gürtellinie" und einem gestreckten Mittelfinger, den er gesehen habe. "Ich bin auch kein Kind von Traurigkeit, aber solche Dinge rutschen mir nicht raus", sagte Lieberknecht. Auf die Frage, ob die Beleidigungen von Pereira persönlich gekommen seien, sagte er: "Wir haben auch Leute, die Portugiesisch verstehen."

Die Partie krankte eine ganze Weile daran, dass es beide Mannschaften nicht vermochten, das Mittelfeld spielerisch zu überbrücken. Michael Liendl schlug für die Münchner das eine oder andere Mal seine beliebten, leicht verzinkten Pässe in die Spitze, doch mangelte es ihm an Präzision. Auch die Braunschweiger benötigten 27 Minuten, ehe ihnen der erste Spielzug gelang: Kijewski steckte den Ball durch zu Hernandez, Stefan Ortega parierte den Schuss aus spitzem Winkel. Beide Mannschaften spielten nervös. Bälle versprangen, Pass-Stafetten liefen nicht weiter als zwei, drei Stationen. Erst eine Einzelaktion von Lumor, der über die linke Seite den Sprint anzog, brachte die erste Chance für Sechzig. Doch statt zu schießen, überließ er Amilton den Ball.

Schön anzusehen war das alles nicht. Dann erst, kurz vor der Pause, wachte 1860 auf. Erst setzte Bülow nach einem Eckball einen Kopfball gegen das Kreuzeck - und mit der letzten Chance der ersten Hälfte platzierte Aigner unbedrängt einen Kopfball in die Arme von Jasmin Fejzic. "Das Spiel nehme ich heute auf meine Kappe. Wenn ich das Tor mache, läuft es in eine andere Richtung", sagte der 60er.

Drei Großchancen innerhalb von zehn Minuten, alle vergeben

Auch nach der Pause drückte und drängte weiter Sechzig. Wieder setzte sich Lumor durch, diesmal spielte er ab auf Aigner, doch der setzte den Ball aus kurzer Distanz neben das Tor. Der Sturmlauf nahm kein Ende: Lacazette spielte Aigner frei, doch dessen Schuss aus 20 Metern klärte Fejzic. In den vergangenen sechs Partien hatte 1860 nur drei Tore erzielt, jetzt gab es drei Riesengelegenheiten in zehn Minuten. Alle blieben ungenutzt.

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Dass sich im Fußball so etwas rächt, mag eine Floskel sein. Aber oft genug stimmt sie auch. Und so kam es, dass sich Omladic im Strafraum um Boenisch drehte, flach in die Mitte zu Nyman passte, der den Ball mit dem Rücken zum Tor annahm, sich ebenfalls gekonnt drehte und traf. Pereira nahm den wirkungslosen Christian Gytkjaer sowie Lacazette aus dem Spiel, brachte in Sascha Mölders und Florian Neuhaus zwei neue Kräfte. Es war auch nicht so, dass Sechzig keine Chancen mehr gehabt hätte. Einen Kopfball von Marin Pongracic klärte Omladic auf Höhe der Linie. Aber zwingend war das alles nicht mehr. Im Gegensatz zu zwei Chancen von Jan Hochscheidt gegen Ende: Erst traf er die Latte, dann den Pfosten. "Für mich sah es so aus, als wären wir die Mannschaft, die um den Aufstieg spielt", sagte Pereira. Blöderweise verantwortet er aber eine Mannschaft, die gegen den Abstieg spielt.

© SZ vom 30.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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