Sprachlabor (98):Irgendwie apokryph

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger beleuchtet einen Fall aus allen Richtungen.

WIE BESCHEIDEN manche Leser doch sind! Sie wollen, wie sie schreiben, nur auf "dumme Sprachgewohnheiten" hinweisen, doch wenn man die vermeintliche Kleinigkeit aufschnürt, sieht man einen sprachpolitischen Koloss. Einen Fall dieses Kalibers hat uns Herr Sch. zugewälzt, indem er die "haarsträubende" Verwechslung von alttestamentlich und alttestamentarisch geißelte und um Abstellung des Unfugs nachsuchte. Wie sich bei näherer Betrachtung zeigte, ist es hier mit einem "Ja, ja, wird gemacht" bei weitem nicht getan.

Die Hände des Bibelsammlers Walter Remy berühren im Bibelmuseum der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) in Münster eine lateinische Bibel Salamanca (1584/85) aus seiner Sammlung. (Foto: ddp)

In Grimms Wörterbuch findet sich nur dieser kuriose Eintrag: "ALTTESTAMENTLICH bildet man, obwol nicht gesagt wird alttestament, nur das alte testament." Der Blick in den Großen Duden löst zunächst ebenfalls keinerlei Beunruhigung aus. Dort wird alttestamentlich mit das Alte Testament betreffend, auf ihm beruhend erklärt, alttestamentarisch hingegen mit nach Art des Alten Testaments . Der Beleg dazu, aus Klaus Manns "Wendepunkt", lässt freilich aufhorchen. Es ist darin von "Racheakten von wahrhaft alttestamentarischer Furchtbarkeit" die Rede.

Um den Grund der Sache zu beleuchten, sei ein Aufsatz herangezogen, den Andreas Mertin vor ein paar Jahren in dem von ihm herausgegebenen Magazin Tà katoptrizómena veröffentlichte, einer Zeitschrift für Theologie und Ästhetik. Diesem Text zufolge ist es nämlich nicht gehupft wie gesprungen, ob man so oder so sagt beziehungsweise schreibt. Mit den Methoden der Korpuslinguistik komme man schnell darauf, wie das Wort alttestamentarisch konnotiert ist: mit Strafe, Rache, Brandmarkung, Auge um Auge ( alttestamentlich hingegen mit Religion, Bibel, Gottesbild). Mertin sieht hinter alttestamentarisch den Antijudaismus sein Unwesen treiben, und wenn er auch nicht einer Meinung mit dem Alttestamentler Erich Zenger ist, der das Adjektiv der Nazisprache zuweist, so findet er doch weiter unten im Brunnen der Vergangenheit Belege, die seine Einschätzung bestätigen: Zitate etwa von Brentano und Hauff, denen "antijüdische Klischees nicht fremd" gewesen seien.

Es ist, wie Mertin schreibt, nicht immer Antijudaismus, der bei der Verwendung von alttestamentarisch obwaltet, sondern meist Gedankenlosigkeit, eine Einschränkung, die wir auch für unser Blatt (obwohl oder gerade weil darin schon einmal "der alttestamentarische Gaul" durchging) mit Nachdruck in Anspruch nehmen wollen. Wie weit diese Gedankenlosigkeit beim Pendant des Alten Testaments reichen kann, illustriert Andreas Mertin mit einem Beispiel aus libri.de. Dort wurde und wird bis heute Wilhelm Schneemelchers Buch "Neutestamentliche Apokryphen" im Bild gezeigt. Im Text daneben aber steht: "Neutestamentarische Apokryphen." Irgendwie apokryph, nicht wahr?

© SZ vom 19./20.03.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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