Sprachlabor (94):Nur mit Bedacht gebrauchen

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger erhält Blüten und belächelt "stehende Ovationen".

WER ÄLTERE SPRACHSCHICHTEN betritt, sollte gut aufpassen, dass er nicht stolpert oder gar der Länge nach hinschlägt. Das kann schon bei Kleinigkeiten passieren, etwa bei der Präposition ob , die von manchen Kollegen nur allzu gern anstelle von wegen verwendet wird; da kommt es zwar in aller Regel zu keinen größeren Unfällen, aber man handelt sich den Vorwurf der Wunderlichkeit ein. Zu den leicht vergilbten und gerade darum recht charmanten Wörtern gehört das Adverb gewahr , das nicht nur mit Bedacht gebraucht werden sollte, sondern auch und jedenfalls richtig. In Verbindung mit werden bedeutet es "eine vorher nicht gesehene Sache durch das Gesicht empfinden" (Adelung), wobei der Gegenstand dieses Empfindens im Akkusativ und Genitiv stehen kann: den/des Sonnenaufgang/s gewahr werden. In einem Artikel über den Genremaler Gabriel Metsu war kürzlich vom Christusknaben die Rede, "der sich gerade seiner anstehenden Leiden gewahr wird". So gut der Ausdruck zu der besprochenen Sphäre passte, so überflüssig war das "sich", und es fanden sich nicht wenige Leser, die dessen gewahr wurden.

Besucher der Buchmesse in Frankfurt/Main gehen an einem Transparent mit der Aufschrift "Die deutsche Rechtschreibung" vorbei. (Foto: ddp)

AUCH DIE JUSTIZ steckt voller Wunder, man muss, um sie zu sehen respektive ihrer gewahr zu werden, die Zeitung nur so aufmerksam lesen wie Herr H., der folgende Blüte ausschnitt und, zusammen mit ein paar anderen Blüten, auf eine Art Klageschrift klebte: "Markus W.s Haftstrafe war im April abgelaufen, kam aber nicht auf freien Fuß." Demnach ist Markus W. seit April frei, während seine Haftstrafe nach wie vor einsitzt. Strafvollzug, quo vadis?

DIE STEHENDEN OVATIONEN hat jeder von uns schon mal gesehen und belächelt, wir nehmen sie mittlerweile hin wie den nicht enden wollenden Applaus, der ja in der Tat eine Vorstufe der stehenden Ovation ist. In Ottobrunn gab es dazu eine Neuerung, die von Leser St. mit wohlwollendem Staunen registriert wurde. Die dortige Ballettschule hatte das Weihnachtsmärchen "Die Schneekönigin" getanzt (um nicht, mit einer anderen Theaterfloskel, zu sagen: auf die Bühne gestemmt), und wie wurde es ihr gelohnt? Es wurde ihr "mit stehend verabreichten Applausstürmen" gelohnt. Im Interesse der meist recht leicht gekleideten Balletteusen ist zu hoffen, dass auch sie enden wollend waren.

© SZ vom 5./6.2.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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