Sprachlabor (92):Ohren- oder Augenzeugen?

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger zieht die Reißleine und was es im Deutschen nicht gibt.

KRANFÜHRERbrauchen es, Polizisten auch, ansonsten aber führt das Augenzeugnis in Schillers "Don Carlos" ein vergleichsweise exklusives Leben als Zitat: "Ein Augenzeugnis, ein erhaschtes Wort, / ein Blatt Papier fällt schwerer in die Waage, / als mein lebendigstes Gefühl." Der Augenzeuge hingegen ist allgegenwärtig, sollte es nach Ansicht der Polizei jedenfalls sein. Als kürzlich in Brühl ein Haus zerbarst, war nicht nur einer da, sondern mehrere. "Augenzeugen zufolge", hieß es bei uns, "hatte es am Samstag einen lauten Knall gegeben." Die Tragik des Ereignisses ist das eine. Das andere ist Leser R.s Frage, ob diese Leute nicht am Ende eher Ohren- als Augenzeugen waren. Unser lebendigstes Gefühl stimmt ihm zu.

Vor einer mit lateinischen Sprichwörtern beschriebenen Tafel erteilt die Lehrerin der 8. Klasse im Alten Gymnsium von Bremen Lateinunterricht. Latein ist wieder angesagt, und das nicht nur bei Altphilologen. (Foto: dpa/dpaweb)

UNWÜRDIG!Das ist ein Wort von apokalyptischer Bedrohlichkeit, und wenn es jemand wie unser Leser Dr. L. wider unser Blatt gebraucht, heißt es die Reißleine ziehen. Die Verwechslung von das und dass sei "eines Blatts mit dem Anspruch der SZ unwürdig", schreibt er. In der Tat haben wir, was diesen Fehler betrifft, das Kerbholz voll schändlicher Kerben, und eine der markantesten ist dieser Satz aus einem Bildtext: "Dass mit dem Weihnachtsmarkt nachher, dass schaffe ich nicht!" Die Weihnachtsmärkte sind vorbei, es besteht also Hoffnung, dass das dass das das fürs Erste in Frieden lässt.

HENRY FORD IIhat auf seine alten Tage zum dritten Mal geheiratet. Wenn von der "Ignoranz seiner neuen Liebe" die Rede ist, könnte man zunächst meinen, diese Gattin sei eine dumme Nuss gewesen. Das stand aber in dem fraglichen Text gar nicht zur Debatte. Vielmehr ging es darum, dass Fords Kinder aus erster Ehe der Hochzeit Nummer drei fernblieben und dass ihnen der Alte "die Ignoranz seiner neuen Liebe" sehr übelnahm. Leser B. weist darauf hin, dass es eine Ignoranz im Sinne von nicht zur Kenntnis nehmen wollen im Deutschen nicht gibt, ungeachtet dessen, dass das lateinische ignorare sehr wohl auch dies bedeuten kann. Wären Fords Kinder Bayern oder Österreicher gewesen, hätten sie im Hinblick auf die Hochzeit vielleicht gesagt: "Dees ignorier ma mia net amoi!"

© SZ vom 8./9.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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