Sprachlabor (91):"Freie Radikale"

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger über Medizinisches.

DIESE KOLUMNE ist keine Medizinkolumne, weswegen sie sich auch bedeckt hält, wenn Leser sie mit Sprachlichem konfrontieren, das ins Medizinische hinüberlappt. Dieser Enthaltsamkeit gedenkt sie auch im kommenden Jahr treu zu bleiben, doch weil Silvester ist und alle Welt über die Stränge schlägt, wollen wir auch hier mal fünf gerade sein lassen und uns mit den "freien Radikalen" beschäftigen. Der Hintergrund: Bei den Zeitschriftenverlegern herrscht Unmut über eine rüde Werbekampagne des Bauer Verlags Hamburg, und unser Korrespondent dort oben hatte von der Sorge berichtet, dieses Haus respektive die Verlegerin Yvonne Bauer könne "als eine Art freie Radikale" das Vertriebswesen der Branche in Unordnung bringen. Das klang lustig, weil Verlegerinnen ja sonst eher dem von Radikalen bekämpften Establishment zugerechnet werden und weil bei dem Begriff "freie Radikale" ein wohliges Ächzen durch fast jede Gesprächsrunde geht - wohlig deswegen, weil die meisten Leute sich bei diesem Wort zwar gruseln, andererseits aber aus erster Hand wissen, dass schon ein Apfel oder ein Rippchen superbitterer Schokolade die freien Radikalen aus dem Feld schlagen, zumindest in ihre Schranken weisen können. Jede Wette, dass die wenigsten von ihnen den Singular dieser Wesen kennen, im Unterschied zu unserem Leser B., der weiß, dass es "freies Radikal" heißt und "mit der chemischen Eigenschaft von Sauerstoffmolekülen" zu tun hat. Auf der Homepage einer Firma, die einen Beerenextrakt gegen freie Radikale anbietet, ist zu lesen, dass beim Stoffwechsel Zwischenprodukte des Sauerstoffes entstehen, die hochreaktiv und aggressiv sind. Das sind die "freien Radikalen", denen in ihrer chemischen Struktur ein Elektron fehlt. Also greifen sie andere Moleküle an, um sich das Elektron zu rauben, wodurch diese ebenfalls zu freien Radikalen werden und ihrerseits auf Elektronenklau gehen müssen. "Ein Teufelskreis entsteht", sagt die Firma. Bleibt im wohlverstandenen Interesse des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger zu hoffen, dass Yvonne Bauer im Vollbesitz ihrer Elektronen ist.

Fachbücher des Duden-Verlages stehen auf der Bildungsmesse didacta in Köln im Regal. (Foto: ag.dpa)

DIESE KOLUMNEist aber auch keine Mathematikkolumne, doch wollen wir's auch hier heute nicht so genau nehmen. Unser Leser K. rügt die Definition, etwas sei "fünfmal kleiner" als etwas anderes. Dergleichen gehe nur in der Gegenrichtung: Wäre Goliath fünfmal größer als David gewesen, wäre er sechsmal so groß gewesen (1 Ur-David + 5 weitere). Bei der Verkleinerung hingegen sei nach dem ersten Mal schon nichts mehr da, danach gehe es in die Antimaterie, die aber wiederum Materie erzeuge, wodurch man am Ende dreimal mehr als vorher habe. Dies ist, wir wiederholen es, keine Mathematikkolumne, doch wir geben das mit den Größen und Materien gern weiter und hoffen im Übrigen, dass das Neue Jahr ein- bis zweimal besser wird als das nun so zügig dahinschwindende.

© SZ vom 31.12.2010/1./2.1.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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