Sprachlabor (76):Ein Begriff treibt sein Unwesen

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger betrachtet die zwei Seiten von "Untiefe".

GIBT ES GAR NICHT: In diesen Stand verweist unsere Leserin W. das Wort "Entschleunigung", das in einem großen Artikel fast zwanzigmal vorkam, nicht aus Jux übrigens, sondern weil es darin um das boomende Geschäft mit der Entschleunigung ging. Das Wort existiert also, und Frau W. wollte mit "Gibt's nicht" wahrscheinlich nur sagen, dass sie das Wort als Missbildung ansieht, dass es ihr ähnlich zuwider ist wie dem Kollegen K. der es einst zum "Hasswort der Woche" ernannte. Der Begriff Entschleunigung treibt sein Wesen resp. Unwesen seit 31 Jahren, geprägt hat ihn der Schriftsteller Jürgen vom Scheidt, der auf seiner Homepage verhalten mault, dass er kaum je als Urheber genannt werde. Es sieht nicht so aus, als wolle das Wort nach dem Beispiel anderer Neologismen wieder verschwinden, was sicher nicht an seiner Schönheit liegt, sondern daran, dass die Leute Sehnsucht nach Beruhigung, Abbremsen und Verlangsamung haben. Es ist nicht Sache dieser Rubrik, den Terminus schönzureden, aber da wir mit ihm noch eine ganze Weile werden leben müssen, wollen wir der alten Verben schlaunen, schleunen und schleunigen gedenken, mit denen sich das Präfix ent- zur Not schon verbinden lässt.

Bücher aus der Privatbibliothek der Brüder Grimm werden im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum in Berlin gezeigt.  Zwölf Teilbibliotheken aus den Geistes-, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wurden im Grimm-Zentrum zusammengefügt. Auch die Privatbibliothek der Brüder Grimm als Namensgeber hat dort ihren Platz. (Foto: dpa)

EIN LIEBLINGS-"FEHLER" unserer Leser ist die "Untiefe", doch mögen die Gänsefüßchen andeuten, dass es mit der Fehlerhaftigkeit so weit nicht her ist. Als kürzlich gemeldet wurde, junge Leute seien in einer Untiefe ums Leben gekommen, traten einige Leser mit erhobenem Zeigefinger vor und erinnerten daran, dass mit Untiefe eine seichte Stelle gemeint sei. Das ist ohne Zweifel richtig, doch muss man, wenn sich in der Gebrauchssprache derartige Untiefen auftun, auch die andere Seite betrachten - und die gibt den vermeintlich Fehlenden recht. Es handelt sich bei der Untiefe nämlich um ein Antagonym, also um ein Wort mit gegensätzlichen Bedeutungen, was daran liegt, dass die Vorsilbe un- bei untief einerseits negierend verwendet wird (nicht tief), andererseits augmentativ (sehr tief, wie bei der Unmenge). Wer nun den Verdacht hegt, hier werde ein Zaubertrick vorgeführt, um einen gängigen Sündenfall zu sanktionieren (auch so ein Antagonym, weil es gutheißen und bestrafen bedeuten kann), der irrt. Schon Grimm führt die Untiefe sowohl als Gegensatz wie auch als Steigerung der Tiefe, wobei er für Letzteres unter anderem Goethe heranzieht. Dieser berichtete seinem Freund Zelter in einem Brief, dass er viel Papier verschrieben und dabei "manches Erfreuliche aus den lethäischen Untiefen herausgefischt" habe. Lethäisch bezieht sich auf Lethe, den Fluss des Vergessens, und dass der seicht sei, kann man nun wirklich nicht sagen.

© SZ vom 28./29.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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