Sprachlabor (196):Was steckt hinter dem Phänomen?

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Der Screenshot zeigt die englischsprachige Seite von Wikipedia. (Foto: dpa)

SZ-Redakteur Hermann Unterstöger und der Sprachmeister.

WENIG ERFOLG verspricht sich Leser H. davon, gegen den als Erfahrung, Fachwissen oder Kundigkeit missverstandenen Begriff Expertise zu Felde zu ziehen: Er sei wie Falschgeld unters Volk gestreut worden, "und jetzt kriegt man diesen Wechselbalg nicht mehr los". Ein Blick in die Runde der Medien bestätigt Herrn H.s Expertise, und wenn wir vor der eigenen Tür kehren, finden wir Fehlgriffe genug: beispielsweise den Fußballer, dessen "sportlicher Expertise" vertraut wird, die "hohe Expertise" der Schwaben beim Putzen und die Frage, warum Wowereit "sich den Kultursenatoren-Posten ans Bein gebunden hat, ohne dafür genug Zeit, Engagement, Expertise zu haben". Es steht zu vermuten, dass hinter dem Phänomen das Englische steckt, in dem expertise sowohl Gutachten als auch Kompetenz bedeuten kann. Laut Wikipedia wird unser Wort Expertise in Anlehnung daran "in der Kognitionspsychologie zudem für Expertenwissen benutzt". Indessen, wer von uns ist schon Kognitionspsychologe?

ES KLINGT ZWAR GROB, aber man kann sagen, dass jedes Kind zunächst einmal eine tabula rasa ist. So auch Jean Paul. Als er am 21. März 1763 zur Welt kam, konnte, wie es bei uns hieß, "niemand wissen, dass einer der großen deutschen Schriftsteller geboren war". Leser K. unterstützt diese Aussage. Mehr noch: Er ist überzeugt, dass auch im April, Mai und Juni und selbst im Dezember 1763 niemand von Jean Pauls späterer Bedeutung eine Ahnung hatte, ja dass Jean Paul sein ganzes Säuglingsalter lang nichts Wesentliches zuwege brachte, literarisch jedenfalls.

DIE NICHTVERGEWISSERUNG spielt im Strafrecht eine gewisse Rolle, etwa wenn jemand auf ein Wesen geschossen hat, das er für einen Hirschen hielt, das aber in Wahrheit ein Mensch war. In so einem Fall kann man dem Schützen eine Sorgfaltsverletzung anlasten: die Nichtvergewisserung, dass der "Hirsch" wirklich ein Hirsch war. Es handelt sich um eine fahrlässige Tötung nach § 222 StGB. In einer Theaterrezension kam jetzt "so etwas wie die Endlosschleife der existentiellen Nichtvergewisserung" zum Vorschein, ein Gebilde, das auch unseren Leser K. existenziell irgendwie entgewisserte. Zu seiner Beruhigung: Im fraglichen Stück, dem "Onkel Wanja" an den Münchner Kammerspielen, wird nicht geschossen. Er kann also ruhig hineingehen.

ER VERNEIGE SICH "vor den Sprachmeistern", schreibt Leser Sch. und deutet auf den Titel "München gedenkt Karl Scharnagl". Des sei er, Scham hin oder her, herzlich bedankt.

© SZ vom 20./21.04.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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