Sprachlabor (193):Das Meer der Sprache

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Weltgrösstes lateinisches Wörterbuch Manfred Flieger, wissenschaftlicher Betreuer des so genannten "Thesaurus Linguae Latinae", aufgenommen in der Bibliothek der Akademie der Schönen Künste in München. Der "Thesaurus" ist das weltweit grösste Wörterbuch der lateinischen Sprache, die Arbeit daran wurde im 19. Jahrhundert begonnen. (Foto: ddp)

Hermann Unterstöger und der Sturm der Entrüstung.

DAS NARRATIV fährt wie ein Geisterschiff über das Meer der Sprache. Viele sehen es vorbeirauschen und wüssten gern, was es geladen hat, aber ehe sie es entern können, ist es schon wieder im Nebel verschwunden. Leser H. begegnete dem Phantom in einem Artikel, an dessen Beginn die These stand, dass bei Amokläufen oft die Frage nach dem Geisteszustand des Täters aufgeworfen werde; starke Konjunktur habe dabei "das individualpsychologische Narrativ vom Autisten", das den Täter aus der Gesellschaft herausnehme. Was passiert da? In Gérard Genettes Abhandlung "Die Erzählung", der Fachwelt zufolge der bislang gründlichste Versuch, die Grundlagen und Techniken des literarischen Erzählens zu analysieren, heißt es, ein Narrativ sei die Erzählung durch den Bezug auf die Geschichte und ein Diskurs durch den Bezug auf die Narration, doch hilft uns das hier nicht weiter. Geht man von der Wurzel des Begriffs aus, vom lateinischen narrare (erzählen, berichten, sagen), könnte man die irritierende Passage so übersetzen, dass nach Amokläufen gern behauptet werde, der Täter weise autistische Züge auf. Wer mehr wissen will, sei auf Claude Bremonds Essay "La logique des possibles narratifs" (Paris, 1966) verwiesen. Durchaus hilfreich auch Sönke Finnerns "Narratologie und biblische Exegese" (Tübingen, 2010).

DER WIND bläst, so der Evangelist, wo er will; du hörst sein Sausen wohl, weißt aber nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt. Ähnlich der Shitstorm , der ebenfalls plötzlich da ist und ein riesiges Rumoren veranstaltet. Freilich weiß man bei ihm, von wannen er kommt, nämlich aus den sogenannten Social Media. Wohin er fährt, soll uns nicht kratzen - Hauptsache, er ist weg. Das wünscht sich auch Leser E., der dankbar wäre, wenn wir ihn überhaupt mit diesem "peinlichen, unappetitlichen, einfallslosen und abgenutzten Begriff" verschonen könnten. Das wird schwierig, weil sich der Terminus eine starke Stellung im Umgangsdeutschen erobert hat, damit auch in der Presse (die SZ verwendete ihn in den vergangenen zehn Jahren rund 60-mal). Im Anglizismenindex des Vereins Deutsche Sprache ist er mit der mittleren Qualifikation "differenzierend" versehen, was bedeutet, dass man ihn sogar dort, wo man in solchen Sachen eher streng ist, als potenziellen Neu- und Dauerbürger ins Auge fasst. Der Duden definiert den Shitstorm als "Sturm der Entrüstung in einem Kommunikationsmedium des Internets, der zum Teil mit beleidigenden Äußerungen einhergeht". Die Eindeutschung dürfte schwerfallen, weil man unter einem "Scheißsturm" traditionell etwas völlig anderes versteht.

© SZ vom 23./24.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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