Sprachlabor (137):Das Bruderskind

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger erklärt Verwandschaftgrade und die Vokabel unverhofft.

BEI MÖRIKE gibt es den König Milesint, der selbst die Krone tragen will und deswegen "sein Bruderskind" meuchelt. Für den Dichter war das gut, weil sich Bruderskind auf Milesint reimt - nicht auszudenken, wie seine "Traurige Krönung" ausgefallen wäre, wenn er mit dem Wort Neffe hätte arbeiten müssen! Das Bruderskind ist das Kind des Bruders, aus der Sicht des Onkels also der Neffe respektive die Nichte, aus der Sicht der Kinder des Onkels der Cousin oder die Cousine, früher der Vetter oder die Base, Letztere oft auch Bäschen genannt. Kürzlich ließ das Statistische Bundesamt wissen, dass in der Gesamtmenge der Kinder der Anteil der Zweit- und Drittgeborenen zugenommen habe, eine Neuigkeit, die bei uns unter der Rubrik "Mehr Geschwisterkinder" an die Leser weitergegeben wurde. Einer von ihnen, Herr M., ruft alle Geschwister dazu auf, sich sprachlich und auch anderweitig nicht von den Geschwisterkindern verdrängen zu lassen.

Im Stadtmuseum von Ludwigsburg sind zwei in Glas gravierte Porträts von Eduard Mörike und einige Auszüge von Briefen zu sehen. Geboren wurde der deutsche Schriftsteller und Lyriker Eduard Mörike am 8. September 1804 in Ludwigsburg. (Foto: ddp)

EINE RECHT WEIT GESTREUTE Verwandtschaft hat auch der vierstöckige Hausbesitzer , der in keinem grammatischen Kuriositätenkabinett fehlt. Unter den bekannteren seiner Bruderskinder findet sich der geräucherte Fischladen und der flüssige Seifenbehälter ; als sein vornehmster Neffe gilt die gut sitzende Ruhe seines Anzugs (aus Musils "Mann ohne Eigenschaften" verkürzt zitiert). Eine Kollegin hat nun die "nackten Mädchenbilder" des Fotografen Jock Sturgess hinzugefügt, die Leser Dr. K. nur zu gern auch gesehen hätte. Wir könnten uns jetzt dahinter verschanzen, dass so eine Verschiebung der logischen Wortbeziehungen auf den schönen Namen Enallage hört, doch da dies eher nach einer klinischen Bezeichnung klingt, sei der Kollegin geraten, künftig von Nackte-Mädchen-Bildern zu reden.

VON EINER HAVARIERTEN russischen Raumsonde hieß es bei uns, sie sei "unverhofft" abgestürzt, was in unseres Lesers P. Ohren stark nach Schadenfreude klang. Zugunsten des Kollegen, der diese Wortwahl zu verantworten hat, nehmen wir an, dass er sowohl den Russen als auch ihren Raumsonden wohlwollend gegenübersteht und dass er die Vokabel unverhofft im Sinn von unerwartet verwendete, wie das auch in der höheren Literatur gelegentlich unterläuft. Schiller zum Beispiel beschreibt in seiner "Zerstörung von Troja" die Gefühle des plötzlich von Feinden umzingelten Androgeos folgendermaßen: "So zittert, wer, in Dornen tief versteckt, / Die Natter unverhofft mit rauhem Fußtritt weckt." Müßig zu sagen, dass es Androgeos ähnlich erging wie der russischen Raumsonde.

© SZ vom 11./12.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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