Sprachlabor (104):Als Chance sehen

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SZ-Redakteur Hermann Unterstöger nimmt ein anonymes Schreiben zur Kenntnis und erläutert ein Manko der FDP.

POSITIV GESTIMMTE Menschen sehen in allem eine Chance, möglicherweise in verborgener Übereinstimmung mit Hölderlin, der da sagt: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." Diese Einstellung wirkt im Allgemeinen sehr aufbauend. Wenn beispielsweise jemand in den Fluss gefallen ist, braucht er keine hundert Lacher, sondern einen, der ihm nachruft: "Du musst das als Chance sehen!" Möglicherweise kommt er dann ja wirklich nicht nur lebend heraus, sondern sogar mit einem dicken Fisch im Jackenärmel. Nichtsdestoweniger sollte man es auch hier nicht übertreiben, jedenfalls nicht so wie die zwei Kolleginnen, die Ulla Schmidt im Interview fragten, was sie täte, wenn sie die "Chance" hätte, einem Kind die Krankheit Chorea Huntington zu vererben. Frau Schmidt ließ sich das Risiko nicht entgehen und antwortete, sie würde darüber nachdenken, ob sie bei so einer Disposition überhaupt schwanger werden wolle.

Schüler des Markgraf-Georg-Friedrich-Gymnasiums in Kulmbach, aufgenommen während des Englischunterrichtes in einem modernen Multimediaraum. (Foto: DDP)

ANONYMES wird üblicherweise nicht zur Kenntnis genommen. Dennoch sei hier kurz wiedergegeben, was eine Leserin unlängst ohne Namensnennung vorbrachte: Die Überschrift "Apple entsetzt weltweit seine Kunden" sei fehlerhaft, weil nur die Kunden selbst sich entsetzen könnten, in dem Fall über gewisse Usancen im Umgang mit "sensiblen" Nutzerdaten. In dieser transitiven Verwendung von entsetzen könne der Satz so aufgefasst werden, als seien die Kunden weltweit belagert worden und würden nun von Apple durch Hilfstruppen entsetzt, also aus ihrer Bedrängnis befreit. Hört sich gut an, und in der Tat war dieser militärische Gebrauch von entsetzen lange Zeit üblich. Andererseits rechnet Peter Eisenberg das Wort unter die "psychischen Verben mit Akkusativobjekt", was sich mit einem Zitat aus Schillers "Don Carlos" schön belegen lässt. "Ich fasse nicht, was diese Reden meinen", sagt darin die Königin zu Posa, "doch sie entsetzen mich."

DEM LEITARTIKLER, dem bei der FDP "der geistige Esprit" fehlte, attestiert unsere Leserin K., dass der "Niedergang dieser Partei nicht nur seine liberale Seele psychisch tief getroffen" habe. Für die FDP ist dieses Manko übrigens noch aus einem anderen Grund fatal. Auf Brigitte.de verriet einmal eine Frau, "dass mich erst der geistige esprit eines mannes so richtig anmachen kann und ich mich dann auch sexuell zu ihm hingezogen fühle".

© SZ vom 17.05.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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