Tibet-Express:Höhenzug aus Stahl

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Mit der höchstgelegenen Bahn der Welt nach Lhasa: Chinas Prestigeprojekt ist für Tibet Chance und Gefahr zugleich.

Achim Zons

Der Kampf um ein Wort des Verständnisses oder gar des Bedauerns begann schon kurz hinter Xining, und er war von Anfang an aussichtslos. Es war gegen halb neun Uhr am Abend, der Zug Nr.917 hatte noch nicht lange den Bahnhof verlassen, das Zischen der sich lösenden Bremsen, das Pfeifen der langsam losruckelnden Lok waren kaum verklungen, da herrschte bereits großes Chaos in dem Wagen Nummer 676615.

Peking - Lhasa
:Mit dem Zug aufs Dach der Welt

Die höchste Strecke der Welt: Eine Bahnlinie führt von China bis in die tibetische Hauptstadt Lhasa, teilweise auf über 5000 Metern Höhe.

Hilfreiche chinesische Träger hatten die einzelnen Gepäckstücke nach Gutdünken auf die Abteile verteilt, niemand fand irgendetwas und vor allem nicht da, wo es sein sollte, Fahrgäste okkupierten Sitze, die für andere bestimmt waren, in dem schmalen Gang vor den Abteilen stauten sich Gepäckstücke und Menschen vieler Nationen, nichts ging mehr vor oder zurück, es wurde gebrüllt, diskutiert und gedroht...

Da näherte sich geschmeidig ein schmaler, 39 Jahre alter Mann in schwarzem T-Shirt und Sonnenbrille der Stelle, wo der Streit am größten war und in ein Handgemenge auszuarten drohte. Mit einem kurzen Befehl unterbrach der Mann das Stimmengewirr, ordnete in wenigen Minuten das Durcheinander, verteilte Plätze und Gepäckstücke vernünftig und ohne dass ihm jemand widersprach.

Und als er sich vielleicht zehn Minuten später im Abteil Nummer 5 auf das Bett gegenüber setzte, da antwortete er ungerührt auf die Frage, wie er es denn angestellt habe, das Chaos zu beseitigen: "Welches Chaos?"

Schon zu diesem Zeitpunkt hätte klar sein müssen, dass es nicht einfach werden würde, mit Hilfe dieses Mannes auch die weniger schönen Hintergründe des Tibet-Bahn-Baus und des tibetisch-chinesischen Konflikts in Erfahrung zu bringen, obwohl er unser Führer war und damit den undankbaren Job hatte, alles ins rechte Licht zu rücken und gleichzeitig umfassend zu erklären.

Dass Li Jun, wie er hieß, sich als hochintelligent und äußerst wendig herausstellte, war nicht überraschend. Man kommt in China nicht per Zufall so weit, wie er gekommen ist.

Li, wie alle Welt ihn rief, war eine auffällige Erscheinung: Sein Schädel war an beiden Seiten hoch hinaufrasiert, sein schwarzes, langes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, ließ er nur oben auf dem Kopf in einem schmalen, vielleicht zehn Zentimeter breiten Streifen wachsen. Meist trug er eine Sonnenbrille, weshalb man selten in seinen Augen nach einer Regung forschen konnte.

Der Blick auf seine Visitenkarte erklärte, dass man es nicht mit einem kleinen Angestellten zu tun hatte: Li Jun war der General Manager des Tibet China Travel Service mit Sitz in Lhasa und für uns der oberste Vertreter der chinesischen Obrigkeit - Chance und Gefahr zugleich.

Hierhergekommen waren wir natürlich nicht ohne Grund. Vor einem Jahr, genau am 1.Juli 2006, hatte die Tibet-Bahn ihren Dienst aufgenommen und war das erste Mal hinaufgeklettert nach Lhasa, der Hauptstadt Tibets, die auf 3600 Metern Höhe liegt.

Es war nicht nur für die Chinesen ein Moment größter Erhabenheit, als der von zwei starken Lokomotiven gezogene Zug in den Bahnhof von Lhasa einfuhr. Es hatte sehr viel Geld - geschätzte vier Milliarden Euro - und nahezu übermenschliche Kräfte und einige Menschenleben gekostet, diesen alten chinesischen Traum endlich zu realisieren.

Fünf Jahre hatten fast 100.000 Bahnarbeiter die rund 1120 Kilometer lange Trasse von Golmud nach Lhasa gebaut, davon 960 Kilometer auf mehr als 4000Metern Höhe, mit dem höchsten Bahnhof der Welt auf 5068 Meter, meist durch menschenleeres Gebiet, über Permafrostboden, durch hohe Berge sich bohrend, ohne modernste Maschinen, überwiegend mit einfacher menschlicher Kraft.

Und es hatte geklappt: Die Welt staunte, Lhasa feierte mit einem riesigen Fest und einem Feuerwerk, und die Chinesen konnten einen weiteren Beweis ihrer neugewonnenen Größe präsentieren.

Ein Entwicklungsland, mittelalterlichen Bedingungen kaum entwachsen, hatte technisch die Leistung einer Großmacht vollbracht. Es war eine mutige, leicht größenwahnsinnige Kampfansage des Menschen an die Natur gewesen. Und jetzt war der große Sprung nach Westen gelungen, in mehrfacher Hinsicht.

Von den Tibetern sprach keiner.

Aber man muss von ihnen sprechen. Denn natürlich kommen im Schatten des Zugs auch Gefahren ins Land. Durch ihn werden die Einflüsse von außen noch stärker werden, die einzigartige buddhistische Kultur Tibets wird leiden, und viel Zeit bleibt nicht, alles zu dokumentieren und festzuhalten.

Zu stark ist die Seite der Eroberer, zu mächtig sind die weltlichen Verführungskräfte wie westliche Moden, Internet und neueste Medien, die ungehemmt über diese vor ein paar Jahrzehnten noch so archaisch geprägte tibetische Gesellschaft hereinbrechen. Die meisten der knapp 100.000 chinesischen Bahnarbeiter zum Beispiel blieben in Tibet, und dort natürlich vor allem in Lhasa.

Dass sie dort geblieben sind, war ganz im Sinne Pekings: Diese Menschen, fast ausschließlich Han-Chinesen, sollten Tibet bevölkern. Sie sollten dafür sorgen, dass die Einheimischen eines Tages in ihrem eigenen Land in der Minderheit sind. Was heißt eines Tages.

Ob Li das auch so sah? Würde er abwehrend darauf hinweisen, dass ja auch in vielen anderen Ländern der Erde Eroberer alteingesessene Gesellschaften zerstört haben, indem sie Neues, Unbekanntes mitbrachten und damit vieles der ursprünglichen Kultur zerstörten? Wie zum Beispiel die Spanier in Mittelamerika, die Amerikaner im Land der Indianer, die Inder in Zentralafrika?

Doch es war keine Gelegenheit mehr, das näher zu betrachten, denn plötzlich wurde das Licht gelöscht. Überall Dunkelheit, nur die Notbeleuchtung wies dem Schlaflosen den Weg.

Mitten in der Nacht, zwischen zwei und drei Uhr, herrschte eine verblüffende Stille im Zug. Eine Art Frieden umfing die Schlafenden, egal wie verrenkt und unbequem sie in ihren Sitzen klemmten. Die meisten waren Chinesen, die wenigsten Tibeter, einige Touristen aus dem Westen, viele aus Hongkong.

Draußen, in der Nähe von Telingha, zogen die Silhouetten riesiger Berge vorbei, die schwarz wie Schattenrisse in den nachtblauen Himmel ragten. Der Mond erleuchtete den Boden der Hochebene, man hatte den Eindruck, Schnee überziehe ihn wie Puderzucker, doch noch war nirgendwo Schnee.

Ein Abenteuer für die Ingenieure

Der Zug lief ruhig auf den neuen Schienen, das Tak-tak-tak der Räder an den Stahlnähten klang gedämpft. Mit rund 100 Kilometern pro Stunde durcheilte der Tibet-Express dieses riesige, überwiegend unfruchtbare Hochland.

Der Boden ist hier bis tief hinunter gefroren, und es war dieser Boden, der das ganze Bauprojekt für die chinesischen Ingenieure zum Abenteuer machte. Denn im Sommer taut er an der Oberfläche auf, und je länger die wärmeren Zeiten andauern, desto instabiler wird der Untergrund mit der Zeit für das Gewicht der Schienen und des Zugs.

Doch die Ingenieure haben eine Lösung für dieses Problem gefunden, zumindest glauben sie das: An kritischen Stellen ließen sie Stahlrohre fünf Meter tief in den Boden rammen, füllten sie mit Ammoniak, einem Kältemittel, das die Erde auch im Sommer unter dem Gefrierpunkt halten soll. Die Jahre werden zeigen, ob das ausreicht, ob die Tibet-Bahn so lange existieren wird wie die Große Mauer.

Bei der quälenden Frage, ob dies die Geschichte einer chinesischen Heldentat ist, eine Abenteuerstory - schließlich saßen wir im höchsten Zug der Erde - oder der Abgesang auf eine Kultur, die durch diese technische Meisterleistung unweigerlich noch weiter an Ursprünglichkeit verlieren wird, würde Li keine Hilfe sein. Zumindest nicht freiwillig.

Dabei hätte er es gekonnt, seine Biographie ist schließlich beeindruckend. Aufgewachsen ist er in der südchinesischen Stadt Chongqing. Seine Mutter war Geschäftsführerin einer Bank, sein Vater Parteisekretär beim Rundfunk. Dass Li hochbegabt war, fiel schon bald auf. Wenn man in China beim Abitur 400 Punkte von 600 möglichen erreicht, kann man auf eine erstklassige Universität gehen. Li kam auf 498 Punkte und studierte Deutsch und Englisch. Beides spricht er nahezu fehlerlos.

Ein knarzendes Geräusch unterbrach die Gedanken. Über den Lautsprecher meldete sich scheppernd eine Frauenstimme. Li richtete sich in seinem Bett auf. "Der nächste Halt wird Golmud sein", sagte er. "Hinter Golmud werden die Sauerstoffschläuche verteilt. Hier" - er zeigte auf eine Stelle oberhalb des Bettes - "kannst du sie im Notfall anschließen."

Um ehrlich zu sein: Es war nicht dieser Notfall, der sich da gerade entwickelte. Denn in die Wagons wird in dieser Höhenlage ohnehin permanent zusätzlicher Sauerstoff gepumpt. Viel drängender war oft das Problem, das viele Wasser, das man hier oben trinken soll, auch wieder lozuwerden. Ständig begegnete man Murphy's law: Wenn etwas schiefgeht, dann richtig. Wenn etwas schnell gehen muss, dann geht gar nichts. Man hatte das Gefühl, die wichtigste Tür, die Toilettentür, war ständig verschlossen.

Ein wunderbarer Moment, auf die außergewöhnlichen hygienischen Bedingungen einzugehen, zumindest auf die, die man im Wilden Westen des Landes sonst so vorfindet.

Reisen bildet ja bekanntlich, in China heißt das, auch in ausweglosen Situationen nach würdevollen Auswegen zu suchen. Das Gefühl der Ausweglosigkeit hat mit der Gepflogenheit der Chinesen zu tun, äußerst private Momente der Kommunikation ohne jede Scheu öffentlich zu machen.

Alles, was man in solchen Situationen vorfindet, ist bestenfalls als Abtritt zu bezeichnen. Türen oder Sitzgelegenheiten in einigermaßen komfortabler Höhe, gar keimfrei gestaltet, sind unüblich. Man kann es in aller Offenheit sagen: Ein Bildband über die hygienischen Highlights des Landes wäre ohne Frage in kürzester Zeit fertig. Und eines wäre bei solch einem Band sicher: Er käme völlig ohne Text aus. Ein Bestseller würde er allerdings nicht.

Mittlerweile stand der Zug, nicht weit von Golmud entfernt. Li war ausgezeichneter Dinge, es war eine schöne Reise, er hatte alles unter Kontrolle. Aufmerksam erläuterte er, was die Chinesen in den zurückliegenden fünfzig Jahren alles für das autonome Gebiet Tibet gemacht haben. Schon wahr, sie haben das Land modernisiert und mit Wasserkraft entwickelt, sie haben Straßen gebaut und jetzt die Eisenbahn. Sie haben Milliarden investiert, um das Land aus mittelalterlichen Verhältnissen zu reißen. Sie haben die alten Häuser Lhasas durch neue ersetzt, die hübsch anzusehen sind und dennoch so wirken, als seien sie von früher.

Sie haben sich wirklich viel Mühe gegeben - nicht uneigennützig natürlich, denn sie sind klug genug zu wissen, dass es die buddhistische Kultur Tibets ist, welche die Gäste aus aller Welt anlockt.

Dabei ist diese Kultur den Chinesen immer fremd geblieben. Für sie gehört sie in Museen, in Tempel, in Klöster. Wenn von ihr geredet wird, dann immer nur in der Vergangenheit.

Ein Traum ist Wirklichkeit, so lange du schläfst, sagen die Tibeter. Manchmal aber wird der Traum auch Wirklichkeit, wenn man wach ist. Es kam doch tatsächlich der Moment, dass Li seinen Panzer öffnete. Und er sprach von diesen schlimmen Zeiten, als die Chinesen Tibet unterwarfen: in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als der Dalai Lama fliehen musste; während der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976; und dann noch einmal 1989. Natürlich waren es für ihn keine schlimmen Zeiten. Hatte ich wirklich erwartet, er würde das so beschreiben, wie man es in der westlichen Welt überall lesen kann?

Nein, es war nicht überraschend, wie Li seine Welt verteidigte, sie hatte ihn schließlich groß gemacht. Li hatte das unbeholfene Spiel längst durchschaut, also gab er sich gar keine Mühe, kunstvoll blendende Erklärungen abzugeben. Die blutige Eroberung Tibets? "War eine friedliche Befreiung". Ein von den Chinesen zerstörter Tempel, der nur äußerlich für die Touristen wieder aufgebaut worden war und dessen Insassen inhaftiert oder ermordet worden waren? Für den hatte er den Satz: "Der Tempel ist heute nicht mehr in Betrieb, zu wenig Mönche." Die Zerstörung der einzigartigen tibetischen Umwelt durch Ausbeutung von Bodenschätzen? Alles nicht korrekt: "Wir haben dem Land mehr gegeben als genommen."

Am 15.Tag des 4. Monats des tibetischen Mondkalenders waren wir schließlich in Lhasa. Ausgerechnet an dem Tag, an dem Buddha Geburtstag hatte. Zehntausende tibetische Pilger bevölkerten die Straßen, die Tempel waren überfüllt, in anderen Ländern hätte es nur eines kleinen Funkens bedurft, diese Menschenmassen zu einem Aufruhr anzustacheln.

Doch die Menschen hier folgten einem vorgezeichneten Weg, unbeirrt, gelassen, voller Ausdauer und Würde. Es war faszinierend, diese Gläubigen zu sehen auf ihren entbehrungsreichen Wegen. Angesichts dieser Menschenmassen waren selbst die Massen der Han-Chinesen für ein paar Tage nichts.

Vermutlich glaubte Li ja auch allen Ernstes, dass die Chinesen den Tibetern aus der Armut, der Unwissenheit, dem Verfall ihrer Kultur herausgeholfen und ihnen die Chance gegeben hatten, etwas Wertvolles aufzubauen. Und in einem kurzen, erschreckenden Augenblick wurde plötzlich klar, was er damit meinte: Mag sein, dass die Menschen hier in Tibet ihre Vergangenheit verloren haben. Aber sie haben eine Zukunft gewonnen. Allerdings eine Zukunft, die von den Chinesen geprägt wird.

Es war Abend, als wir uns das letzte Mal sahen. Lis dunkle Augen legten mich auf den Operationstisch, nahmen noch einmal ein paar erkundende Einschnitte vor. Und dann sagte er doch tatsächlich, als ob er für irgendetwas um Verständnis bitten müsste, dass für ihn der Buddhismus ein Fremdwort gewesen sei, als er vor 16 Jahren nach Lhasa gekommen war. "Heute", sagte er lächelnd , "glaube ich an die Wiedergeburt." Dann drehte er sich um - und schon verschmolz seine Gestalt mit dem Dunkel des nachtschwarzen Himmels.

© SZ vom 5.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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