Spitzbergen:Aufräumen!

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Die arktische Natur ist sensibel - und teils voller Müll aus dem Süden, der große Gefahren für die Tiere birgt. Touristen können jetzt beim Saubermachen helfen.

Von Birgit Lutz

Bedächtig wandert der Eisbär über die Insel. Es ist ein großes, starkes, schönes Tier. Die 20 Menschen, die an Deck des Segelschiffs SV Antigua stehen, sind still, nur die Kameras klicken. Kapitän Joachim Schiel greift nach dem Fernglas. Konzentriert beobachtet er den Bären, dann lässt er das Glas sinken. "Er hat ein Fischernetz um den Hals hängen!", sagt Schiel leise. Tatsächlich. Als der Bär näher kommt, sieht man es mit bloßem Auge: Ein dickes, grünes Seil ist um seinen Hals gespannt, ein Teil davon hängt bis auf den Boden, bei manchen Schritten tritt er darauf.

Der Bär mit seinem unfreiwilligen Halsschmuck ist in Spitzbergen kein Einzelfall.

Touristen, die eine Reise in die Arktis buchen, denken oft, dort unberührte Natur vorzufinden, doch schon beim ersten Landgang werden sie eines Besseren belehrt: Selbst die Orte der Welt, die selten menschlichen Besuch erhalten, werden von Zivilisationsmüll heimgesucht. Steigt man in Spitzbergen an manchen Stränden aus dem Schlauchboot, steht man inmitten von Plastikkanistern, Netzen, Seilen, Schuhen - kurz: in einem bis zu 100 Meter breiten Streifen angespülten Mülls aus der ganzen Welt. In dem von Norwegen verwalteten Spitzbergen gibt es deshalb seit einiger Zeit für Einheimische und Touristen das Aufräumprogramm "Clean Up Svalbard".

Margrete Keyser ist eine Mitarbeiterin des Sysselmann, des Gouverneurs der Inselgruppe Svalbard mit der Hauptinsel Spitzbergen. Vor allem die Überreste aus der Fischerei seien gefährlich, sagt sie. Eisbären, Rentiere, Robben und Wale verfangen sich regelmäßig in Fischernetzen. "Wenn so etwas passiert, ist das ein Todesurteil für das Tier. Die Netze sind oft sehr schwer, die Tiere hängen darin fest und verhungern. Wächst das Tier noch, stranguliert es sich mit dem immer enger werdenden Netz langsam selbst."

Kampf auf Leben und Tod: Rentiere auf Spitzbergen, in einem der vielen weggeworfenen Fischernetze verheddert. (Foto: Sveinung Råheim/ Sysselmannen)

Kapitän Joachim Schiel ist mit der Antigua, einem Schiff der niederländischen Tallship Company, seit sieben Jahren jede Saison etwa sechs Monate auf verschiedenen Reisen rund um den Archipel unterwegs. Ebenso lang sammelt er Müll mit den maximal 32 Gästen an Bord. "Viele unserer Gäste sind sehr naturverbunden", sagt er. "Wenn sie sehen, was hier herumliegt, wollen sie ganz selbstverständlich Müll aufsammeln. Besonders, wenn wir wie jetzt einen Eisbären mit einem Netz um den Hals sehen."

Als Schiel vor Jahren zum ersten Mal mit Säcken voller mühselig gesammeltem Müll nach Longyearbyen, der größten Siedlung der Inselgruppe, zurückkam, wollte die Hafenbehörde noch Geld für die Entsorgung. Mittlerweile ist das nicht mehr so; heute macht sich die Verwaltung das Säuberungspotenzial zunutze, das in den Kreuzfahrten rund um Spitzbergen steckt, sofern die Kapitäne oder Expeditionsleiter der Schiffe das Programm unterstützen.

"Wir gehen meistens so vor, dass wir einen Vormittag oder Nachmittag der Reise komplett dem Aufräumen widmen", sagt Schiel, "und säubern dabei gezielt einen Strand." Als er nach der traurigen Eisbärensichtung die Gäste fragt, ob sie Interesse haben, die Bucht Mushamna vom Abfall zu befreien, gehen wie erwartet alle Hände nach oben. 200 Meter lang ist dieser Abschnitt etwa. Vor zwei Jahren habe Schiel ihn mit einer Gruppe gereinigt, sagt er, "aber wenn man mit 20 Leuten einen ganzen Tag arbeitet, ist der Strand hinterher noch immer nicht wirklich sauber". Zwei Jahre nach der letzten Säuberung sieht man schon von Weitem wieder eine ganze Menge neuer Fischernetze. Das deckt sich mit der Beobachtung auf den Sysselmann-Touren: "Nach etwa vier Jahren sind die gesäuberten Strände wieder komplett vermüllt", sagt Keyser. Eine Sisyphusarbeit.

Oft liegen große, weiße Plastikkästen am Strand, wie sie in der Fischerei verwendet werden. Aus vielen sei der Schiffsname herausgekratzt worden, erzählt Schiel - damit niemand herausfinden könne, woher sie stammen. Auffallend viel Müll werde auch an den Küstenstreifen gefunden, vor denen die Fischerboote ihren Fang an größere Schiffe übergeben, sagt Schiel. Dort liegen dann haufenweise die weißen, harten Plastikstreifen herum, mit denen Paletten verpackt werden. Manchmal sind diese Plastikstreifen zu großen Ballen verschnürt. "So werden sie nicht zufällig über Bord geweht", sagt Schiel. "Das ist illegale Entsorgung. Aber wie soll man das beweisen?" Schiel wird wütend, wenn er diese Dinge erzählt. Der 41-Jährige ist arktischer Kapitän aus Leidenschaft. Bei Tiersichtungen geht er behutsam vor. Sollte eine Robbe wegen seines Schiffs ihren Ruheplatz auf einer Eisscholle verlassen und ins Wasser gleiten, ist das für ihn eine persönliche Niederlage.

"Natürlich ist es ein kleiner Beitrag", sagt der Passagier, "aber irgendwo muss man ja anfangen."

Und so wirft er den Motor des Zodiacs an und transportiert an diesem Vormittag acht Schlauchbootladungen Unrat ab - von dem Strand, der schon vor zwei Jahren gesäubert wurde. Die Gruppe ist in ihrer Sammel-Leidenschaft kaum zu bremsen. Das sei nicht immer so, ist Schiels Erfahrung. "Müllsammeln klingt einfach, ist es aber nicht. Das Zeug ist schwer, es stinkt und es ist dreckig. Man muss sich ständig bücken, halb eingegrabene oder eingefrorene Netze aus dem Boden ziehen oder graben. Das wird nach zwei Stunden enorm anstrengend", sagt er, "hinterher stinkt man selber wie ein Fischernetz und ist von oben bis unten dreckig."

Der Niederländer Mischa van Hout, einer der Gäste der Antigua, schleift eine riesige Plastiktonne durch den Sand. "Ich bin schockiert, wie es hier aussieht", sagt er. Man könne sich auch nicht damit herausreden, dass man aus einem Land komme, in dem Müll sachgerecht entsorgt werde - denn die Etiketten der Verpackungen sprächen eine andere Sprache. Es müsse mehr getan werden, derlei Plastikmüll bereits in der Entstehung zu vermeiden, sagt er. "Ich bin trotzdem froh, dass wir aufräumen. Natürlich ist es ein kleiner Beitrag. Aber alle Verbesserungen fangen mit Problembewusstsein und ersten kleinen Schritten an. Wichtig ist, dass man sie macht."

Allein, bis ein Fischernetz von einem Strand an der Ostküste Spitzbergens wirklich entsorgt ist, sind viele kleine Schritte nötig: Die Gäste sammeln den Müll in Säcke und laden sie in das Boot, Schiel fährt sie zur Antigua und hievt sie per Kran an Bord, wo sie in noch größere Säcke gepackt werden. In Longyearbyen werden diese wiederum mit dem Kran auf einen Handkarren geladen und zu den Containern gezogen, die die Verwaltung an den Schiffskais aufgestellt hat. Sie tragen das Logo von "Clean Up Svalbard" und sind mit einem Zahlenschloss versehen. Der Inhalt der Container wird sortiert, das meiste verbrannt. Zwölf bis 15 Kubikmeter Müll, schätzt Schiel, haben die Gäste der Antigua 2014 gesammelt. Das meiste waren Netze, daneben fanden sie aber beispielsweise auch ein noch halb volles, rostiges Ölfass.

Keyser und ihre Mitarbeiter haben errechnet, dass die Passagiere in den vergangenen Jahren insgesamt zwischen 1600 und 3000 Kilogramm Müll pro Jahr gesammelt haben. Angesichts von pro Jahr insgesamt 12 300 Expeditions-Kreuzfahrtgästen, die weit in die Inselgruppe vordringen und öfter an Land gehen, und weiteren 35 000 herkömmlichen Kreuzfahrtgästen ist hier also noch Luft nach oben.

Weit mehr sammeln derzeit noch die Einwohner Longyearbyens: Die Verwaltung bietet auf einem regierungseigenen Schiff eine sechs Tage dauernde "Clean Up Svalbard"-Tour. Für diese Fahrt können sich Einheimische anmelden - kostenlos. "Die Touren sind sehr beliebt. Wir haben immer viel mehr Interessenten als Plätze", sagt Keyser. Zwischen 72 und 155 Kubikmeter Müll wurden dabei pro Jahr gesammelt. "Die Verschmutzung der Strände variiert je nach Strömung und Ausrichtung der Küste", erklärt Keyser. "2013 haben wir zum Beispiel zehn Kubikmeter Müll an einem einzigen Strandabschnitt von 500 Metern Länge gesammelt." Lohnt sich der Aufwand? Keyser berichtet von einem Netz, das gefunden wurde. Acht oder neun Rentier-Skelette waren darin verhakt. "Zu einem gefangenen Rentier gesellen sich oft noch andere, die sich dann ebenfalls verfangen", sagt sie, "insofern zählt jedes einzelne Netz, das weggeräumt wird."

Nun soll das Programm ausgebaut und die von den Touristen erzielte Sammelmenge deutlich erhöht werden: Die Dachorganisation Association of Arctic Expedition Cruise Operators (AECO) will zwei Fahrten organisieren, bei denen zahlende Passagiere zwar durchaus die Schönheiten der Inseln erleben, hauptsächlich aber Müll sammeln sollen. "Wir haben finanzielle Unterstützung dafür beantragt, eine Entscheidung ist aber noch nicht gefallen", sagt Ilja Leo Lang von AECO. Veranstaltet würden die Touren, sofern sie zustande kommen, 2015 und 2016 von den Anbietern Oceanwide Expeditions und G Adventures.

Der Eisbär mit dem Fischernetz um den Hals hatte Glück. Schiel und andere Expeditionsleiter meldeten den Bär an das Büro des Sysselmann. Dessen Mitarbeiter konnten ihn per Hubschrauber ausfindig machen, betäuben und befreien. Mischa van Hout und seine Mitreisenden bekommen am Ende ihrer Reise ein Dankeschön überreicht: das "Clean Up Svalbard"-Logo als Anstecker. Es ist in Plastik eingewickelt.

© SZ vom 22.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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