Schwulenszene in Berlin:Es wird kalt an der Warmfront

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Berlin ohne Glitzer und Glitter: Eine zeitgemäße Reise in die Stadt des Dritten Geschlechts

Helmut Schödel

(SZ vom 26.06.2001) - Es war ein ungewöhnlich kalter Abend für Anfang Juni, als die schwule Szene in der Eisenacher Straße in Berlin-Schöneberg bibbernd vor dem "Spot" auflief, einem Café mit Bar, das nach herrschendem Ritual dem Warming Up für eine Samstagnacht dient. Eine Art Kopfsprung in einen Jahrmarkt der Eitelkeiten.

Schwullesbischen-Treff in Schöneberg (Foto: N/A)

"Eines Tages, da die Heiterkeit die Herrschaft über die Homosexuellen antrat..." Ich musste an einen Satz aus Detlev Meyers "Biographie der Bestürzung" denken, ein Meilenstein homo-erotischer Literatur. Dieser heitere Tag schien noch unendlich fern zu sein. Todernst und gezeichnet vom Stress der Selbstdarstellung kamen Harry Graf Einsiedel und Tasso Tarzan, wie Meyer sie nennt, von Spandau, von Wedding oder von Steglitz her, um eine Spur der Bewunderung zu hinterlassen und sich um ihre Lust zu kümmern. Vielleicht hätte ein geschulter Beobachter in ihren Augen entdecken können, was Meyer "die drei Tuntenwünsche" nennt: "Champagner, Koks und 'n Neger." Der Champagner soll kühl sein, der schwarze Junge und das Koks müssen sauber sein.

Das thailändische Handtuch liebt den Metzger

Außerdem schien im "Spot" gerade ein Bus aus Bangkok angekommen zu sein, und irgendwo in der Hauptstadt mussten die Kundenberater der Banken angesichts überzogener Dispo-Kredite eine schlaflose Nacht verbringen, so fein waren die Zwirne, so chic die Frisuren. Wie grazil sich diese Thais bewegen! Einen kannte ich, ein sympathischer junger Mann mit der Statur eines Handtuchs, lebt mit einem Metzger zusammen, der schon bald wieder gehen musste wegen der Schicht. Ein Stück Berliner Wirklichkeit auf der Pfaueninsel um die Motzstraße, gleich beim Nollendorfplatz, dem Schwulen-Kiez im Westteil Berlins.

"Wer das Riesengemälde einer Weltstadt wie Berlin nicht an der Oberfläche haftend, sondern in die Tiefe dringend erfassen will, darf nicht den homosexuellen Einschlag übersehen, welcher die Färbung des Bildes im einzelnen und den Charakter des Ganzen wesentlich beeinflusst", schrieb der Sexualwissenschaftler und Urvater der Schwulen-Bewegung, Magnus Hirschfeld, in seinem Buch über "Berlins Drittes Geschlecht" schon um 1900. Hirschfeld erzählt von "Privatgesellschaften, Diners, Soupers, Kaffees, Fünf-Uhr-Tees, Picknicks, Hausbällen und Sommerfesten". Kurzfristig stellte Hirschfeld im Berlin der Zwanziger Jahre "eine starke Aktivierung der homosexuellen Masse" fest.

Apropos Masse. Meine Massigkeit brachte mir in jener Samstagnacht zusammen mit meinen 50 Jahren nichts als Schwierigkeiten. Als ich "Tomi's Bar" besichtigen wollte, kleidete der Türsteher seine Abweisung in eine freundliche Ausrede: "Geschlossene Gesellschaft!" Inzwischen war ein Teil der "Spot"-Society ins "KC" gewechselt, ins "Kleist Casino" gleich um die Ecke, eine Bar mit Disco. Man würde auch von dort weiterziehen, hieß es, bis sich die Spuren in Lokalen, Pensionen und Darkrooms verlieren würden und man sich beim Frühstück vielleicht wieder treffe. Darkrooms?!

Statt der "Diners, Soupers und Kaffees", von denen Hirschfeld erzählt, gibt es jetzt eine blühende Vereinslandschaft in Berlin. Schwule Radler treffen sich im "Gay-Biker-Verein". Die Schuh- und Sockenfetischisten im "Feedback". Es gibt sogar einen Klub für schwule Hobby-Meteorologen, die "Warmfront", ein Meisterstück an Süffisanz. Sogar für Dicke gibt es Hilfe: Die "Heavy Teddies", einen Verein für korpulente Schwule und ihre Liebhaber. Hier erhält wahrscheinlich Einlass, wer sonst draußen bleiben muss. Kaum fällt eine Tür zu im schwulen Berlin, geht eine andere auf: "Komm'Se rein! Komm'Se rein! Alles wie geleckt."

Den Pfarrer geküsst und gestreichelt

Mein Hundesitter in Berlin wird "Georgie" genannt, mit Nachnamen heißt er Kühn. Er war, wie er sagen würde, ein "schwuler Ostbürger", seit Jahrzehnten wohnhaft am Prenzlauer Berg, heute 62 und Rentner. Er hat einen drolligen Gang, ein bisschen knieweich, sein Flinserl am Ohr sitzt schon ziemlich locker, und durch dicke Brillengläser blinzelt er in eine Welt, die ihn noch immer nicht ganz verstanden hat.

Eigentlich sei er eine Frau, sagt Georgie, was eine Art Koketterie darstellt und nicht der Aufschrei eines Transsexuellen ist. Nach einer kurzen Zeit als Familienvater hat er sich auch vom ländlichen Leben im Brandenburgischen verabschiedet und tauchte in die schwule Subkultur der DDR-Hauptstadt ein, zum ersten Mal mit 14. Damals habe ihn der Pfarrer von Fürstenwalde mitgenommen. "Ick hab' mir befreundet mit dem Mann", sagt Georgie vorwurfslos, "jeküssst, jeliebt, jestreichelt." Das muss noch zu Ulbrichts Zeiten gewesen sein.

Damals gingen im Osten Abschnittsbevollmächtigte durch die Hinterhöfe und warnten den neuen Menschen, wenn "so einer" vom Hitler-KZ in eine Berliner Wohnung umgezogen war. Auch im Westen übernahm man die nationalsozialistische Rechtsauffassung zum Paragrafen 175 bis ins Jahr 1969.

Georgie schützte sich mit seiner naiven Exzentrizität, hinter der er sich gut verbergen konnte. Er spielte den Clown für alle Fälle, wobei er nicht viel spielen musste. Es war die Rolle seines Lebens. Als er bei der Reichsbahn war, soll er am S-Bahnhof Schönhauser Allee über Lautsprecher Aussagen wie diese verzapft haben: "Vorsicht! Heute haben die Räder sechs Ecken." Das war sein Galgenhumor. Später hat er im Kabarett "Die Distel" kleine Rollen gespielt und in der Pause in Frauenkleidern und mit Perücke als "Distel-Sissi" Bockwürste verkauft. Der Spitzel, den man auf ihn ansetzte, hatte den Decknamen "Tomate".

Fußtritte und Schmerzensgeld von der Volkspolizei

Georgie war Stammgast in den Schwulen-Kneipen in der DDR-Hauptstadt. In der "City-Klause", der "Moccabar", im "Burgfrieden", in der "Besenkammer" am Alex und in der "Schoppenstube" an der Schönhauser. Die beiden Letzteren gibt es noch heute. Dort habe man Westler getroffen, West-Mark und West- Zigaretten abbekommen. Es sei "fein" gewesen, behauptet Georgie, und "familiär". Natürlich bekam es Georgie ein-, zweimal auch mit der Volkspolizei zu tun, wurde mit Füßen getreten und als "schwules Schwein" tituliert. Aber er hat sich Schmerzensgeld dafür erkämpft. Was Georgie im Notfall stark macht, ist die Tatsache, dass es in seinem Leben einen Menschen gibt, den er wirklich liebt: Georgie.

Heute expandiert die Schwulen-Szene am Prenzlauer Berg in Berlin-Ost mächtig. Aber die Lokale liegen noch immer zu weit verstreut und sind längst keine Konkurrenz zum Westteil der Stadt. Georgie besucht sie schon lange nicht mehr. Er führt jetzt meinen Hund aus und seinen eigenen: King Kong, eine französische Bulldogge. Als er an einer Fußgänger-Ampel in der Bornholmer Straße neben einem Farbigen stand, auf Grün wartete und eigentlich nur seinen Hund rief, "King Kong! King Kong!" - da kam der Mann auf ihn zu und knallte ihm eine. In solchen Momenten versteht Georgie, der sich sein Außenseiter-Selbstbewusstein über Jahrzehnte mühsam entwickelt hat, die Welt nicht mehr. Dann blättert er in seinen Fotoalben von damals. Auf den Bildern: lauter hübsche Bengels, seine Freunde von einst, die meisten aus der Nationalen Volksarmee.

Im "Fugger-Eck" im Motzstraßen-Viertel legt der Wirt, der früher Tanzschullehrer in Bochum war, ein Mann in seinen Sechzigern, die Hits von damals auf, "Die rote Sonne von Barbados" oder "Gigi Amoroso". Auf Knopfdruck löst er im ganzen Lokal ein Vogelgezwitscher aus, und wenn man die Toilette betritt, ertönt eine Alarmsirene. Zwischen Kunstblumen und allerlei Schischi dämmert dort das ehemals schwule Westberlin vor sich hin, die Vorwende-Zeit. Der Wirt führt das "Fugger-Eck" schon über 20 Jahre, ein ehemaliges Familienlokal, und davor hatte er die Schwulen-Disco "Trocadero". Soll was Besonderes gewesen sein, wie man hört. Der Wirt hat einen Freund, der die 40 auch längst überschritten hat.

An einem Samstag pro Monat kocht der Freund auf, diesmal gibt es Fleischrouladen mit Burgunderblauklaut und Kartoffeln, für zehn Mark. Beste Hausmannskost, die sich selbst das Personal der Schwulen- Kneipen nebenan abholt. Da werden auch die Strichjungen weich. Fleischrouladen! Eine Art von Verwandtschaft. Die Rouladen sind Köder, denn die Kneipe läuft nicht mehr besonders, könnte morgen aber schon Kult sein. Der Freund des Wirts ist ein Prachtexemplar der Szene, auf absolut reizende Weise chronisch verstimmt. Morgens geknickt und abends gebrochen, so schreibt es Detlev Meyer. Zwei Zeitungen hängen im "Fugger-Eck" aus: Die Bravo und Die Woche. Was immer uns der Wirt mit dieser Kombination sagen will - das "Fugger-Eck" ist genial.

Die Wehmut der Schwulen-Mutti

Ins "Fugger-Eck" darf jeder kommen, ob alt oder jung, dick oder dünn, schwul oder nicht, Mann oder Frau. An diesem Nachmittag tanzen zwei Frauen zu einem Rex-Gildo-Hit. Ein spätes Busenwunder aus Spandau und eine Frau mit Krücke. "Schön war die Zeit", sagt sie, die das Zeug zu einer Schwulen-Mutti hat, wie es sie früher gab, dick, exzentrisch und im Klimakterium.

Die schwule Westberliner Zeit! Als hier Anti-Stars und Emanzipationsartisten wie Rosa von Praunheim noch zählten und man die schwule Szene der Insel-Stadt noch "innovativ" nannte. Es war die Zeit der "Sub". In Napoleon Seyfarths schwuler Autobiographie "Schweine müssen nackt sein", heißt es: "Sub stand für Subkultur und wurde damit als die Bezeichnung der Gesamtheit aller Schwulenlokale, von denen es in Berlin an die hundert geben dürfte, erklärt." Es war die Welt, in der mit eigenen Lebensentwürfen Harry Graf Einsiedel und Tasso Tarzan umgingen. Die Zeit der Berliner Bettwürste. Bevor es dann die positiven Schwulen gab.

Der Barkeeper einer Kneipe gleich beim "Fugger-Eck" sagt: "Früher hat man sich auch privat getroffen. Jetzt schottet man sich ab. Im Laden lacht man zusammen. Auf dem Ku'damm grüßt man sich nicht mal." Auch die Stricher-Szene habe sich verändert: "Drei Wochen in der einen Stadt, drei Wochen in einer anderen. Lauter Springer. Man kann kein Vertrauen mehr aufbauen." Er sagt: "Tote ham wer schon lange nich. Eher in Wohnungen. Wenn einer die Falschen mitnimmt."

Wenn man mit Szene-Gängern redet, hört man heraus, dass es kälter geworden ist an der "Warmfront". Es scheint auch der alte Glanz und Glitter zu fehlen. Vielleicht ist aus der alten Sub- inzwischen eine Industriekultur der Lust geworden. Der designte Mann ersetzt den Exzentriker und Neurotiker von damals, der noch auf Kreativität vertraute.

Der schwule Bürgermeister liegt im Trend

Magnus Hirschfeld sah in Schwulen-Kneipen allerdings noch "unglückliche Entrechtete, die den Fluch eines geheimnisvollen Rätsels der Natur durch ihr einsames Leben schleppen. Redlich Arbeitende, deren Ehrenhaftigkeit niemand anzweifelt, deren Wort und Name selbst gute Geltung hat; und die sich doch unter dem Druck eines mittelalterlich grausamen Gesetzesparagrafen scheu und heimlich zusammenfinden müssen...". Damit ist es vorbei in einer Stadt, deren Regierender Bürgermeister sich öffentlich zur Homosexualität bekennt. Die Lage hat sich nach einem Jahrhundert schwerster Rückschläge, sagen wir, entspannt. Im Motzstraßen- Viertel kann man das gut genießen, beispielsweise im "Luki Luki". Das ist ein Speiselokal, in dem einem gut gebaute Männer mit nacktem Oberkörper und Drag Queens passable Speisen servieren.

Er ist Rentner, trägt Fliege, und sein Name ist Ritter. Sie nennen ihn in der Szene "Professor", obwohl er nur Elektrotechniker war. Herr Ritter mag "Neger", wie er sagt, "weil die schon einmal durch die Hölle gegangen sind". Wie er selber auch. Denn Herr Ritter ist ein verhinderter Erfinder: Der Erfinder des nahtlosen Stiefels, dessen Patent niemand haben will, weil, wie er sagt, daran die ganze Schuhindustrie scheitern würde. Außerdem hat er für des Mannes bestes Stück eine Art Lederkondom erfunden, das er den "elften Finger Gottes" nennt. Aber auch das will keiner haben. Armer Ritter von der traurigen Gestalt! Jetzt sitzt er in den Szene-Kneipen und sagt: "Ich liebe Leute, denen es noch dreckiger geht als mir, und die finde ich hier."

Einmal hat Ritter draußen in Spandau, wo er lebt, einem Reiterstandbild seinen Stiefel angezogen und bekam Ärger. Aber das ist Ritter gewohnt. Er sei in Posen in einem Schweinestall geboren worden und aus Not habe ihn seine Mutter am nächsten Tag ertränken wollen. Jetzt will er auswandern. Das Land, das seines Stiefels würdig sei, ist China, sagt er. Den Chinesen wolle er, uns zum Schaden, sein Patent überlassen. Zum Abschluss sagt Ritter: "Wer mich nicht kennt, hat sein Leben verpennt."

Man muss nur lange genug herumsitzen in den Berliner Kneipen. Dann taucht doch noch ein bunter Vogel auf, ein Mann, der nahtlos an die Zeit von damals anschließt und zugleich deren Endstadium verkörpert. Um einen wie Ritter zu finden - das braucht Zeit. Ansonsten ist das schwule Berlin leicht zu erobern. "Die ewigen Jagdgründe sind alphabetisch aufgelistet im Gay-Guide", schreibt Detlev Meyer.

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