Unter den Schuhen knacken Äste, die Füße stolpern über Steine. Zum Glück hat einer der Wanderer eine Taschenlampe dabei, sonst wäre dieser Spaziergang durch die finstere Sommernacht in Graubünden ein halsbrecherisches Unterfangen. Zehn Minuten nachdem die Gruppe den Parkplatz bei Alvaschein verlassen hat, öffnet sich der Waldweg hin zu einer Lichtung.
Der Blick fällt auf die Apsiden und den Turm der Kirche von Mistail, die sich gegen den nachtblauen Himmel abhebt. Hinter den Rundbogenfenstern der Kirche flackert Kerzenlicht. Aus dem Inneren ertönt gregorianischer Gesang - die Sänger des Ensembles Vocal Cantori proben für die Aufführung der Laudes.
Die Laudes, pünktlich um 5.30 Uhr bei Sonnenaufgang, sind ein Kernstück des Kulturfestivals Origen, das jedes Jahr im Sommer mehrere Wochen an verschiedenen Orten im Surses-Tal (Oberhalbstein) im schweizerischen Kanton Graubünden stattfindet.
In dem westlich des Engadins gelegenen Hochtal sprechen die meisten Einheimischen noch Rätoromanisch - die vierte Landessprache der Schweiz und Muttersprache von rund 40000 Menschen. Der Name "Origen" weist darauf hin. Er bedeutet so viel wie Ursprung oder Herkunft.
Der Schwerpunkt des Festivals liegt auf Musik- und Bewegungstheater mit christlich-mystischen Themen. Als Sommergast kann man die wichtigsten Stationen des Festivals kaum verpassen: Wenn man von Tiefencastel auf der Straße in Richtung Julierpass in das Tal hineinfährt, taucht bald rechts eine Trutzburg auf, die vor dem Bergmassiv wuchtig in die Höhe ragt.
In der Vergangenheit lohnte sich ein Abstecher nach Riom und der gleichnamigen Burg aus dem 13. Jahrhundert kaum. Lange Zeit war das Gebäude nur eine Ruine. Doch seit 2006 ist in der Burg die Hauptspielstätte des Festivals Origen. Um das leerstehende Gebäude in einen funktionsfähigen Theaterraum umzugestalten, wurde ein provisorischer "Bau im Bau" konstruiert: Die Zuschauertribüne bildet einen deutlichen Kontrast zum unverputzten Mauerwerk der Burg und schafft damit eine erstaunliche dramatische Wirkung.
In diesem Raum wurden in den vergangenen Jahren mehrere eigens für das Festival komponierte Opern uraufgeführt. Nicht weit von Riom entfernt liegt Savognin, das touristische Zentrum des Surses-Tals. Hier treffen sich im Sommer Bergwanderer und Mountainbiker. Von hier aus kann man gut die Hauptattraktionen rund um das Tal erreichen wie die Moorlandschaft bei der Alp Flix oder die von der Unesco im Jahr 2008 zum Weltkulturerbe erklärte Strecke der Rhätischen Bahn in der Kulturlandschaft Albula.
Giovanni Netzer, Origen-Initiator und -Intendant, ist die Seele des Festivals. Der 43-Jährige ist in Savognin geboren und aufgewachsen, verließ den Ort aber, um in Chur und München zu studieren. Nach dem Abschluss seiner Dissertation über das rätoromanische Barockdrama kehrte er in seine Heimat zurück. Mit einer ziemlich verrückten Idee: Er wollte in seinem Heimattal mit nur knapp 2500 Einwohnern ein Theaterfestival auf die Beine stellen, das die regionalen Traditionen des Volkstheaters und des Volkslieds aufgreift und mit zeitgenössischem Musiktheater verbindet.
Mit unermüdlichem Einsatz gelang es Netzer, Förderer und Stifter für das Projekt gewinnen, Mitstreiter zu motivieren und ein beachtliches Ensemble von jungen Künstlern zusammenzustellen. Sein jüngster Coup: Er überzeugte den Schweizer Star-Architekten Peter Zumthor, den bisherigen Theaterraum der Burg Riom in den nächsten Jahren umzubauen. Zumthor war begeistert.
Im vergangenen Sommer besuchten 8600 Zuschauer das Festival. Die meisten Besucher sind Feriengäste und Schweizer Kulturtouristen vor allem aus Region Zürich, die über die Medien von Origen erfahren haben. "Origen" bedeutet für Netzer nicht nur eine Auseinandersetzung mit der Volkskultur und den christlichen Kulturtraditionen des katholisch geprägten Tals, sondern immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Lebensraum der Talbewohner, mit der Natur.
In diesem Jahr widmet sich das Festival vom 1. Juli bis 15. August dem Thema "Paradies". Zentrale Aufführungen werden eine neue Oper namens "Mikael" und die Freilichtkomödie "Casper" sein, in der es um einen Bauern geht, der den Tod erpresst.
Auch die Laudes in der ehemaligen Klosterkirche Mistail stehen wieder auf dem Spielplan. Wer schon einmal dabei gewesen ist, weiß, dass sich das frühe Aufstehen lohnt. Nach den Gesängen kann man morgens um 6.00 Uhr erfrischt in den noch jungen Sommertag starten - ins Naturparadies eines kleinen Graubündner Tals.