Mit dem Rad durch Masuren:Die Landschaft trägt Naturwelle

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Nichts ist rau im Land aus Sand, Wald und Wasser. Fünf gute Gründe, sich dem Nordosten Polens radelnd zu nähern.

Birgit Lutz-Temsch und Jochen Temsch

"Fliegen Sie nach Polen - Ihr Auto ist schon da!", witzelt ein Mitreisender beim Einchecken nach Warschau. Anscheinend ist die Einstellung vieler Deutscher zu ihren östlichen Nachbarn immer noch vernebelt von Überheblichkeit, Unwissenheit und Vorurteilen. Reisen hilft - vor allem, wenn man die Faraday-Käfige Auto und Bus verlässt und sich unmittelbar hineinbegibt in eine wunderbare Landschaft wie die Masurische Seenplatte. Fünf gute Gründe, durch diese Gegend zu radeln:

1. Das Rauschen im Walde

Die Frau dreht durch. Eben hat sich die 72-jährige Mannheimerin einen kurzen, aber ziemlich steilen Hügel hinabrollen lassen. Jetzt sitzt sie in einem Sandloch auf. Sie strampelt, aber ihre Räder greifen nicht. Einen Moment lang hält sie die Balance im Sattel. Dann springt sie ab. "Ich gebe auf", sagt sie. Links und rechts schlingern die jüngeren Radler an der Ältesten der Gruppe vorbei. Aber den Spaß an dieser organisierten Tour lässt sich die jäh Ausgebremste nicht nehmen. "Einfach herrlich!", hören die anderen sie mehrmals am Tag hinter ihrem Rücken ausrufen. Wer die Masuren liebt, der schiebt. Und dieser Liebesbeweis ist häufig nötig.

Das Land der tausend Seen im Nordosten Polens ist auf Sand gebaut. Während der Eiszeit schoben gewaltige, den Boden zermalmende Gletscher Geröll- und Kiesmassen vor sich her. Wo die gleitenden Eisfelder eine Zeit lang stehen blieben, hinterließen sie schmale, niedrige Höhenzüge, die sich heute in alle Richtungen wie Girlanden winden. Justina, die Leiterin dieser Radtour, beschreibt das Landschaftsbild in poetischer Verniedlichung als "leicht onduliert".

An den Stellen, wo die Gletscher tauten oder rissen und Schmelzwasser durchließen, sind heute die großen Seen. Um sie herum wächst dunkler Mischwald, je östlicher desto dichter. Dazwischen leuchtet gelb der Raps. Gerastet wird unter üppigen wilden Fliederbüschen. Der Wind fährt in riesige Roggenfelder, die so weich erscheinen wie Fell.

Dazwischen winden sich die Sandpfade. Sie gehen über in dichte Buchen- und Birkenalleen. Die wiederum münden in Landstraßen mit Mordsverkehr. Trotzdem: Wenn die Autofahrer die Radlerkolonne überholen, sind sie auffällig gelassen. Während der einwöchigen Tour hupt nur einmal einer: ein Deutscher mit Dachauer Kennzeichen.

Am besten fährt man mit Ortskundigen. Markierte Radwege gibt es in Polen kaum. Auch detaillierte Karten sind Mangelware. Spontane Abstecher ins Unterholz bezahlen neugierige Radler mit unfreiwilligen Stopps. Viele Routen verlaufen buchstäblich in diesem Sand, der so hell und fein ist wie an der Ostsee. Und ist man erst einmal unterwegs in dieser grandiosen Natur und Einsamkeit, dauert es nur eine kurze Zeit des milden Auf und Abs, des Kettensurrens und Blätterrauschens, des Schwalbenzwitscherns und der Entspannung im gemächlichen Rhythmus - und auch die Gedanken fließen leicht onduliert dahin. Bis zum nächsten Sandloch.

2. Das Lächeln am Rande

Am Abend im Hotel findet sich auf den Tellern der hungrigen Radler all das, was die Landschaft Masurens so bietet: Zu den Spezialitäten gehören Fische wie Renke, Brasse und Aal, Suppen wie Barszcz aus Roter Beete, die gefüllten Teigtaschen Pierogi und der schwere Eintopf Bigos aus Sauerkraut, Schweinefleisch, Wurst und Pilzen.

Es ist eine rustikale Küche für Schwerstarbeiter. Hinterher könnte man gleich noch einmal 20 Kilometer strampeln, oder aber einen kleinen Schnaps vertragen. Der Hoteldirektor bringt ihn persönlich, einen gelblichen, nach Honig riechenden Likör. "Herzlich willkommen in unserem Haus!", sagt er. "Ich habe eine passende Geschichte für Sie."

Er erzählt die Legende vom wilden Bären, der einst die Herden der Gegend dezimierte und schöne Bauernmädchen entführte. Ein schlauer Jäger übertölpelte das Tier mit einem Schnaps - eben jenem süßlichen Likör, der seitdem Bärenfang heißt und zu den typischen Mitbringseln aus Masuren gehört. "Na zdrowie!" ruft der Hoteldirektor, die Radler am Tisch leeren ihre Gläser.

Natürlich bindet der Mann jeder der im Restaurant versammelten Touristengruppen seinen Bären auf. Aber bemerkenswert ist seine Freundlichkeit. Und das, obwohl die Gruppe hier in Ketrzyn ist, auf Deutsch Rastenburg. Die Stadt ist der Ausgangspunkt für Ausflüge zum ehemaligen Führer-Hauptquartier Wolfschanze, von wo aus Hitler Europa in Brand steckte.

Aber nicht nur in den Unterkünften, auch am Wegesrand ist stets viel Herzlichkeit zu spüren. Kinder, die auf den Dorfstraßen Ball spielen, alte Leute, die vor ihren Häusern auf Bänkchen sitzen - immer wieder winken sie den Vorbeiflitzenden zu: "Dzien dobry", guten Tag. Es ist erstaunlich, wie viel Offenheit überall zu spüren ist. Das war schon in Warschau so, wo sich die Radler getroffen haben, bevor sie ein Bus nach Popiellnen am Spirdingsee zum Start der Tour brachte.

Der Hauptstadt sieht man ihren hastigen Aufbruch in den Kapitalismus an zahlreichen Wolkenkratzern an, die neben klotzigen Bauten des sozialistischen Funktionalismus in die Höhe schießen. Die Außenbezirke sind zubetoniert. Im Innersten ist Warschau malerisch hübsch mit seinem Königsschloss, den gepflasterten Gässchen, der Johannes-Kathedrale und dem Altstädter Marktplatz. Aber auch das ist alles neu.

Am Kriegsende ähnelte Warschau Hiroshima nach der Atombombe. Nach dem Aufstand der Bevölkerung im August 1944 befahl Hitler die systematische Vernichtung der Stadt. Bei Kriegsende waren 850 000 Menschen, zwei Drittel der Bewohner, tot oder vermisst. In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland ist dieses Verbrechen weniger präsent als ein anderes: die Auslöschung der jüdischen Gemeinde nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto im April 1943. Auch die Befehle zu diesen Gräueltaten kamen aus der Festung im Wald um Rastenburg.

3. Lehren der Geschichte

Am frühen Morgen ist die Wolfschanze noch nicht von Horden lärmender Touristen überlaufen. Im dichten Wald ragen die Ruinen der Betonbunker empor wie die Überbleibsel von Pyramiden einer versunkenen, grausamen Urwaldzivilisation. Die Atmosphäre in der ehemaligen Kommandostadt ist beklemmend.

Die Moskitos hängen in schwarzen Schwärmen über den Köpfen der durch Insektenspray imprägnierten Besucher. Nur auf dem Hals eines alten Mannes können die Stechmücken landen. Er schlägt nicht einmal nach ihnen. Es ist Jerzy Szynkowski, ein Historiker und Lehrer, der seit 1978 Touristen durch das "Kwatera Hitlera" führt. Nach all den Jahren ist er nicht nur gegen die Blutsauger immun.

Mit tiefer, monotoner Stimme erklärt er die Anlage. Im Moment steht er vor Mauerresten, über die Gestrüpp wuchert. Auf dem Boden eingelassen ist eine Gedenktafel in Form eines aufgeschlagenen Buches. Szynkowski referiert so trocken, als läse er einen Polizeibericht: "Am Donnerstag, den 20. Juli 1944, kurz nach sechs Uhr morgens, verließen Oberst Stauffenberg und sein Adjutant Werner von Haeften Berlin in einer Junkers Ju-52. In einer mitgeführten Aktentasche befanden sich zwei Bomben."

Es folgt die minutiöse Schilderung des Attentats auf Hitler, das an dieser Stelle passierte. Sogar die exakten Maße des Besprechungstisches, unter dem die Aktentasche explodierte, hat Szynkowski parat. Doch so unbeteiligt nüchtern, wie er scheint, ist er keineswegs. Er hat zahlreiche Bücher über Masuren und Hitlers am längsten genutztes Kriegsquartier veröffentlicht. Eines davon heißt "Deutsche in der Wolfschanze". Darin dokumentiert er seine Erfahrungen mit den Touristen, die er in Gruppen eingeteilt hat.

Szynkowski schreibt von geschichtlich Interessierten, die weitreichende Fragen stellten und Graf Stauffenberg mal für einen Helden und Patrioten, mal für einen Dilettanten und Verräter hielten. Er schreibt von Technikbegeisterten, die vor allem Details zur "deutschen Wertarbeit" der Kommandostadt von ihm erfahren wollten, ohne nach den verbrecherischen Plänen zu fragen, die hier geschmiedet worden sind. Er schreibt von ortskundigen ehemaligen Wehrmachtssoldaten, Ewiggestrigen und Verdrängern.

Während seiner Führung tauchen plötzlich Jugendliche auf, die laut lachend und verbotenerweise auf den Bunkerresten herumklettern. Beim Näherkommen erweisen sie sich als Polen. "Gott sei Dank keine Deutschen", sagt eine Frau aus der Radlergruppe. Auch das sei typisch deutsch, meint Szynkowski: Italiener zum Beispiel würden schlechtes Benehmen von Landsleuten nicht einmal registrieren. Kein anderes Volk habe seiner Meinung nach ein derart ausgeprägtes kollektives Verantwortungsbewusstsein wie die Deutschen.

Die sind dann auch erleichtert, als der Rundgang zu Ende ist. Die Räder stehen auf dem Parkplatz, direkt neben einem Campingbereich auf dem Gelände der Wolfschanze. "Gruselige Vorstellung, hier zu übernachten", sagt einer. Alle sind froh, wegzukommen. Viele schwere Gedanken kommen mit.

Aber es geht noch weiter zurück in die Vergangenheit, vorbei an protestantischen Kirchen, zerfallenen Schlössern und Gutshäusern - das Erbe Ostpreußens, jahrzehntelang als Steinbruch benutzt und jämmerlich verrottet. Im Dickicht der Wälder tauchen verrostete, schiefe Metallkreuze auf. Die Namen darauf kann man kaum mehr lesen: Deutsche, Angehörige von Familien, die hier gewohnt haben, bis sie 1945 vertrieben wurden.

Jemand hat vor kurzem einen noch nach Harz riechenden, primitiven Holzzaun um diesen Friedhof gezimmert. Bei diesem Anblick erinnert sich eine alte Münchnerin aus der Radlergruppe an ihre Mutter. Die habe immer gesagt: "Wenn die Russen über die Weichsel kommen, ist alles aus." Auch die Gedenktafeln für die Gefallenen auf den Marktplätzen der masurischen Dörfer sind frisch gestrichen.

4. Wassermusik

"Die Kruttina schleicht so gemächlich von einem See in den anderen, dass der Betrachter ständig fürchten muss, die Liebliche könnte das Fließen vergessen", schreibt der in Rastenburg geborene Schriftsteller Arno Surminski.

Wie Recht er hat. Der Fluss säuselt so leise, es kitzelt im Ohr. Nichts ist rau in dieser Landschaft aus Sand, Wald und Wasser, in dieser zartgrünen Ruhe, die die Seele streichelt. In weiten Bögen geht es durch den Schilf, wenige Paddelschläge genügen. Am Ufer ist kein Mensch zu sehen. Kormorane steigen aus den Weiden auf. Ein Schwan verteidigt zischend seine flauschigen Küken. Ein abgenagter Baumstamm treibt vorbei. Material für die vielen Biber.

Eine Altenpflegerin aus der Gruppe der Radler, die für zwei Stunden auf Kanus umgestiegen sind, sagt: "Ich wünschte, ich könnte diese Momente speichern, sie abrufen, so oft ich will."

Der Fluss, Biber, Kormorane - und natürlich Störche. Sie nisten auf den Kaminen der Bauernhäuser, auf Strommasten und Kirchtürmen. Sie fliegen tief, klappern und staksen den Traktoren hinterher, mit denen die Bauern die Felder mähen, picken nach den Fröschen. Polen gilt als storchreichstes Land der Welt. Die meisten Tiere brüten hier, in den feuchten Gebieten, wo die meiste Nahrung quakt.

Und abends auf einem morschen Holzsteg an einem verschwiegenen, mitten im Wald versteckten, nur über Sandwege zu erreichenden See, gibt es noch so einen grandiosen masurischen Moment. Die Beine baumeln im kühlen grünen Wasser, die untergehende Sonne scheint durch ein beschlagenes Glas Zywiec-Bier. Im nahen Restaurant feiert eine Großfamilie Hochzeit. Der Hammondorgler spielt "Blowin' in the Wind".

5. Schatten der Zukunft

Renate Marsch-Potocka fürchtet um die Schönheit Masurens. Die pensionierte Polen-Korrespondentin einer deutschen Nachrichtenagentur hat sich hier vor Jahren in einem kleinen Dorf niedergelassen. Hin und wieder führt sie Touristen durch das Forsthaus Kleinort an der Grenze der Kreise Ortelsburg und Johannisburg, in dem der Schriftsteller Ernst Wiechert geboren wurde.

Überhaupt wäre es Renate Marsch-Potocka lieber, die Gäste würden Bücher statt Plastikstörche als Souvenirs mit nach Hause nehmen. Nachdenken über die Herausforderungen Masurens, sagt sie, tue Not.

Die Idylle der Wälder, Wiesen und Seen - Marsch-Potockas Meinung nach wird es sie nicht mehr lange geben. Die Marktwirtschaft habe Polen "mehr Autos, Privatisierungen und viele hässliche Häuser" gebracht. Dorfstrukturen zerfielen. Arbeitslosigkeit und Alkoholismus stiegen. Der monatliche Durchschnittslohn liege bei 600 Euro - und potente Grundstücksspekulanten, auch aus Deutschland, gierten nach den Filetlagen an den Seen.

Den sagenhaften Alleen drohe die Motorsäge, geschmiert von EU-Geldern zur Straßenmodernisierung. Zwar sagt Marsch-Potocka auch: "Auf lange Sicht kann man Masuren nichts anhaben." Aber der letzte gute Grund für eine Reise in diese Landschaft ist dann doch: Die Sanduhr läuft.

© SZ vom 12.07.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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