Denn natürlich verläuft man sich ständig in Tokio. Selbst Leute, die ihr Leben hier verbracht haben, finden manchmal nicht nach Hause. Wahrscheinlich ist es nur dem Bauchgefühl und dem Zufall zu verdanken, dass die Menschen überhaupt irgendwann einmal ihr Ziel erreichen in dieser Stadt.
Tokios Adressen werden nämlich nach Baujahren vergeben, weshalb Hausnummer 71-3-4769 gern mal neben 25-56-23355 liegt. So etwas verwirrt natürlich. Ständig kommen einem Japaner mit fragendem Blick entgegen. Überall stehen Einheimische an den Straßenecken, ausgerüstet mit Stadtplänen, die aber auch nichts nützen, weil die Straßen fast nie Namen haben. Das Einzige, was zu helfen scheint, sind zugefaxte Anmarschskizzen.
Und überhaupt: Tokio gibt es sowieso nicht. Zumindest nicht auf der Landkarte - da ist die Stadt nicht festzumachen. Wie denn auch? 33 Millionen Menschen innerhalb eines 50-Kilometer-Radius, 2000 Quadratkilometer dicht bebautes Land, eine Metropolitan Area, zu der 26 Städte, fünf Orte und acht Dörfer gehören - da kapituliert der beste Kartograph.
Trotz seiner ehrfurchterzeugenden Größe ist Tokio allerdings auch in der Realität kaum greifbar: Es gibt kein Zentrum, keine markanten Wahrzeichen, eine Straße sieht aus wie die andere, und wenn man lange genug laufen würde, könnte man sich von Viertel zu Viertel bis Yokohama hangeln, ohne es zu merken.
Natürlich ist Japans Hauptstadt vor allem erst einmal eine Fiktion, die wir uns aus "Lost in Translation"-Szenen, aus Murakami-Romanen, Videoclips japanischer Bands und Fotostrecken in Modemagazinen zurechtgelegt haben. Und natürlich ist Tokio exakt so. Und natürlich ist es ganz anders. Tokio, hat einmal jemand gesagt, sei der letzte Stopp vor dem Mond. So fühlt man sich dann auch.
Um ihre Hauptstadt kennenzulernen, empfehlen Japaner Besuchern gern eine Fahrt mit der Yamanote-Linie, deren Gleise sich kreisförmig um das gelegt haben, was man als Herzstück des Molochs bezeichnen könnte. 63 Minuten dauert die Rundfahrt über 29 Bahnhöfe, und wo immer man aussteigt und hinaufrollt ans Licht, ist man in einem besonderen Stück Tokio.
Überfüllungsanzeige auf dem U-Bahn-Display
Zuvor und zwischendrin aber ist natürlich die Fahrt mit der Yamanote für sich schon ein Erlebnis: Die Menschenmassen, die sich trotz Zwei-Minutentakt in die 300 Meter langen Züge quetschen, die Hilfsschaffner mit ihren weißen Handschuhen, die dabei behilflich sind - das alles gibt es nur in oder an der Yamanote.
Sie hat auch als einzige Computerdisplays in Englisch, damit man sich nicht verfährt, bevor man sich verläuft. Und Poster, auf denen kleine Männchen den Überfüllungsgrad illustrieren: "Wenn es so eng ist, dass Sie die Seiten in Ihrem Manga nicht mehr umblättern können, ist der Waggon zu 180 Prozent überfüllt."
Dementsprechend froh ist man natürlich, wenn man die Yamanote verlässt. Ueno eignet sich gut dafür, hier liegen Tokios Museen und die Universität in und um einen gigantischen Park.