Der Mann, der sich vorstellen kann, Islands nächster Präsident zu werden, deutet aus dem Fenster in Richtung Zukunft: "Das wird großartig", sagt Pálmi Einarsson. Draußen sieht man eine Tankstelle. Einarsson sieht mehr: das wunderschöne Gewächshaus, das er sich hier wünscht. Gemüse soll dort gedeihen dank natürlicher Wärme aus der Tiefe. Daneben könnten Windräder stehen, die wie Bäume wirken, von denen sie hier sowieso zu wenige haben. Der 46-Jährige, der in Reykjavík eine Holzwerkstatt hat, war früher Manager, doch dieses Leben hat er hinter sich gelassen. Jetzt kann er sich eines in der Politik vorstellen, denn das "Lügen und Stehlen" der Mächtigen bringt ihn in Rage. Sollte er gewählt werden, will Einarsson jeden Isländer über jedes Gesetz abstimmen lassen. Direkte Demokratie per App ist nur eine seiner Visionen; viele sprudeln aus ihm heraus wie heißes Wasser aus den Geysiren.
Wie trifft man auf Reisen jemanden wie Einarsson? Vielleicht zufällig bei einer der Demonstrationen, auf denen Einarsson gerade war. Tausende Landsleute haben dabei ihrem Ärger über den neuen Finanzskandal, aufgedeckt durch die Panama Papers, Luft gemacht. In diesem Fall aber hatte Eline Ruigrok beim Flanieren durch Reykjavík vorgeschlagen, bei ihrem Bekannten vorbeizuschauen.
Der Spaziergang mit Eline wiederum ist nur ein halber Zufall. Anderthalb gemeinsame Tage verbringen wir in der Stadt, wir treffen uns direkt am Flughafen. Es ist eine Art Reise-Blind-Date, nicht zum klassischen Sightseeing, sondern damit ich Reykjavík durch die Augen eines "Stopover Buddys" kennenlerne. Denn wer derzeit mit Eline Ruigroks Arbeitgeber Icelandair auf dem Flug zwischen Europa und Amerika eine Etappe einlegt, hat die Möglichkeit, mit einem Mitarbeiter das Land zu entdecken. Manche bieten Abenteuer in den Bergen an, andere angeln oder stricken lieber. Ruigrok hingegen teilt auf Wunsch ihre Begeisterung für die Hauptstadt. Sie ist gebürtige Niederländerin und kam vor elf Jahren als Au-pair auf die Insel. Heute ist sie 29 Jahre alt und mit ihrer Gastfamilie noch immer eng befreundet. "Ich würde längst in Island leben", sagt Ruigrok, aber da sie nach dem Studium einen Job im Amsterdamer Marketingbüro von Icelandair bekam, fiel der Umzug aus. Ihre Liebe zu Reykjavík pflegt sie nun stattdessen jeden Monat durch einen Besuch.
Man könnte meinen, die wilde Insel im Norden sei vor allem etwas für Menschen, die gerne aus Helikoptern auf Gletscher springen oder sich durch Sturm und einsames Eis kämpfen. Ruigrok aber hat die urbane Seite für sich entdeckt, die Musikszene und das Talent der Isländer, die Dinge so zu gestalten, dass das Leben einfacher und schöner wird. Taschen aus golden gefärbter Lachshaut, Kissen aus überdimensionalen, verschlungenen Wollfäden: Eline stöbert gern in Laugavegur oder Skólavörðustígur, den Einkaufsstraßen Reykjavíks. Exzentrik hat die Stadt bekannt gemacht, klassische Sehenswürdigkeiten lassen sich eher an einer Hand abzählen - die Kirche Hallgrímskirkja etwa und die futuristische Konzerthalle Harpa.
Die berühmten heißen Bäder gehören auch dazu. Doch Eline erwähnt die Blaue Lagune, die üblicherweise auf dem Programm der Reykjavík-Besucher steht, mit keinem Wort. Sie führt mich in ihr Lieblingsbad Laugardalslaug, und das wirkt wie ein ganz normales Stadtbad. Kinder wuseln herum, als würde gleich der Sportunterricht beginnen. Nur ab und an ist ein Gespräch auf Englisch zu hören. Eline mag hier besonders die verschieden temperierten Außenpools, von denen der Dampf aufsteigt. Zur Vorbereitung zeigt sie mir das passende Video der "Iceland Academy", in der Einheimische seit Neuestem Touristen humorvoll über ihre Eigenheiten aufklären. Es heißt: "Wie man Peinlichkeiten im Hot Tub vermeidet." Danach ist klar: Ohne vorheriges Duschen geht hier nichts.
Die "Stopover Buddys" und die "Academy", beide sind Spielarten eines Trends im Tourismusgeschäft: "go local" - Einheimische werben für ihr Land. Schweden hat dazu gerade eine Telefonnummer aktiviert, die den Anrufer mit einem beliebigen Bürger verbindet. Und wo könnte persönliche Willkommenskultur besser passen als auf einer Insel mit 300 000 Einwohnern, auf der angeblich jeder irgendwie jeden kennt? "Visit West Iceland", die touristische Vertretung des Westens von Island, hat dazu Videos drehen lassen, auf denen die Besucher schon vor ihrer Ankunft von Menschen aus der Region begrüßt werden. Südisland wirbt mit lokalen Guides.
Mit zwei Millionen Touristen pro Jahr rechnet Island demnächst. Der Ansturm ruft bei den Inselbewohnern auch gemischte Gefühle hervor. In Reykjavík hängen kleine Plakate, die einen selbstkritischen Blick auf das Land werfen: "Welcome to NIceland - Where we are nice to you, but not to each other." Oder: "Welcome to the hotel ísland - We have crumbling hospitals but great hospitality." Ein Graffito nennt Island das "Ibiza des Nordens" - wie ein Lob sieht das nicht aus.
"Jón, tu etwas!"
Das Ziel Island boomt, für ein Leben dort entscheiden sich aber bislang nur wenige Ausländer, erzählt Eline: "Die, die ich kenne, sind aus Liebe geblieben". Ihr Kollege Frank Wijshijer ist so jemand. Unter einem Mobile aus knutschenden Holzfigürchen scherzt er mit Eline im Lokal Sushi Samba über seine Wahlheimat. Für Kulturvergleiche ist der 48-Jährige prädestiniert: Er ist polyglott, hat als Kind mit seiner Familie Jahre in Afrika verbracht, hat Anekdoten aus Äthiopien ebenso wie aus dem Berchtesgadener Land parat. Nun muss er über sich selbst lachen, weil ihn im überschaubaren Reykjavik mickrige zehn Minuten Stau längst so entnerven wie einen echten Isländer.
Auch der Anblick kleiner Kinder, die in den hellen Sommern noch um Mitternacht draußen spielen, ist für ihn normal geworden. Bei einem seiner ersten Besuche, erinnert er sich, habe er auf die Frage, ob er herziehen wolle, unter dem Eindruck des Winters noch mit "nur über meine Leiche" geantwortet. Nun lebt er hier seit zwölf Jahren mit seinem isländischen Mann und seinen Stiefkindern und schwärmt vom Blick auf Wasser, Berge und einen der wenigen isländischen Wälder, den er von ihrem Haus aus genießt.
Elines Wege führen quer durch Reykjavík. Auf dem Austurvöllur-Platz vor dem Parlament ist das Gras gründlich niedergetreten. Tagelang hatten hier wütende Isländer gegen die Regierung demonstriert, nachdem die Verstrickung des mittlerweile zurückgetretenen Premierministers Sigmundur Davíð Gunnlaugsson in die Offshore-Geschäfte bekannt geworden war. Selbst vom Nationalhelden Jón Sigurðssons haben sie Hilfe erbeten. "Jón, tu etwas!", steht auf dem Sockel seiner Statue. Ruigrok zeigt mir die Aufschrift, hält das Gebäude schräg gegenüber aber für noch wichtiger. Dort befand sich bis vor ein paar Jahren einer der beliebtesten Klubs der Stadt, das Nasa. "Es gab tolle Partys dort," sagt Eline. Jetzt soll hier ein Hotel einziehen. Proteste halfen nichts.
Langweilig wird das Nachtleben in Reykjavík für Musikfans wie Eline trotzdem nie. Ständig eröffnen neue Klubs. Andererseits kann bei der Abendplanung auch immer etwas dazwischenkommen. "Dass Isländer gerne mal eine Verabredung absagen, weil sie gerade das Gefühl haben, doch lieber allein sein zu wollen, fand ich anfangs gewöhnungsbedürftig." Inzwischen schätzt sie die Ungezwungenheit und Ehrlichkeit der Isländer. Einkuscheln oder austoben - das scheinen die Pole isländischer Freizeitgestaltung zu sein.
Montags ist die englische Stand-Up-Comedy im Gaukurinn gut besucht - und natürlich geht es auch um die Regierungskrise. Wie gerade mit Ämtern geschachert werde, sagt der Komiker auf der Bühne, das sei doch, "als wären wir im Flieger und der Pilot macht folgende Durchsage: Hey Leute, meine Frau ist bei al-Qaida, aber keine Panik, wir haben auch einen Typ vom Pizzaservice an Bord, der übernimmt jetzt das Kommando!"
Kaum jemand betritt die Bar ohne Begrüßungsrituale. Auch Eline trifft alte Bekannte, darunter Svanlaug. Sie ist eine Cousine von Elines Gastfamilie, studiert in Glasgow und ist gerade zu Besuch in der Heimat. Sie will Forensikerin werden, aber dafür ist Island mit einem Mord pro Jahr ein eher schlechtes Arbeitsumfeld. Sie werde sich wohl oder übel im Ausland bewerben müssen, sagt die 28-Jährige. Wobei es für sie noch einen anderen guten Grund gibt, vorerst nicht in ihre Heimat zurückzuziehen. "Ich reise so gerne, und von hier aus ist alles so weit." Ihre Freundinnen winken ab: "Fliegen musst du doch aber immer noch, jetzt eben in die andere Richtung!"
Die "Stopover Buddy"-Aktion von Icelandair läuft bis Ende April, eine Folgeaktion ist geplant. Einen Zwischenstopp in Island bis zu sieben Tagen gibt es ohne Aufpreis zum Transatlantikflug, der "Buddy"-Service ist ebenfalls gratis. Weitere Infos unter www.icelandair.com