Insel Robinsón Crusoe:Gestrandet

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Bucht ohne Wiederkehr: Mehr als vier Jahre lang saß der Abenteurer Alexander Selkirk, das Vorbild für Robinson Crusoe, auf diesem einsamen Eiland 670 Kilometer vor Chiles Küste fest. Einige der heutigen Besucher bleiben sogar noch länger. (Foto: AFP)

Auf der Insel Robinsón Crusoe im Südpazifik, die einst den Schriftsteller Daniel Defoe zu seinem berühmten Roman inspirierte, bleiben Besucher auch heute noch gefangen. Manche mögen das sogar.

Von Winfried Schumacher

Seit Tagen hat Teresa Maldonado schlechte Neuigkeiten für die Wartenden. "Heute ist leider wieder kein Platz in der Maschine! Zuerst fliegen die Langusten!" Es hilft nichts, der Dame von der Propellerfluggesellschaft ein gültiges Ticket vorzulegen. Die Languste hat Priorität; sie muss lebend in Santiago ankommen. Niemand will frühzeitig verstorbene Krustentiere zum Champagner.

Aber immerhin versucht Teresa Maldonado, den Fluggästen Hoffnung zu geben. "Wenn morgen das Wetter mitspielt, klappt es bestimmt." Maldonado ist es gewohnt, dass sie Passagiere auf den nächsten oder übernächsten Tag verweisen muss. Und sie tut das mit aufrichtiger Anteilnahme - sogar einen Schlafplatz in ihrer Holzhütte oberhalb des Hafens bietet sie an. "Wenn es nicht stört, dass gerade nicht aufgeräumt ist."

Langustenfang und Viehwirtschaft

Willkommen auf Robinsón Crusoe, Insel der Gestrandeten. Auch heute noch kann hier niemand genau sagen, wann er die Insel wieder verlassen wird. Feste Flugpläne gibt es nicht, und wenn einmal nicht die Langusten die Sitzplätze im Flugzeug blockieren, zieht gerade eine Schlechtwetterfront über das Eiland. Aber was sind schon zwei, drei Tage im Vergleich zu den vier Jahren und vier Monaten, die der schottische Seemann Alexander Selkirk Anfang des 18. Jahrhunderts hier festsaß?

Sein Schicksal inspirierte einst Daniel Defoe zu seinem weltberühmten Roman. Seit 1966 tragen die beiden Hauptinseln des Juan-Fernández-Archipels die Namen Robinsón Crusoe und Alejandro Selkirk. Die entlegene Inselgruppe im Südpazifik gehört seit 1818 zu Chile. Alejandro Selkirk wird nur zeitweise von Fischern bewohnt. Auf Robinsón Crusoe leben heute etwa 800 Menschen hauptsächlich vom Langustenfang und ein wenig Viehwirtschaft.

Wer sich geniert, Teresas privates Übernachtungsangebot anzunehmen, landet unweigerlich bei Ramón Baeza Rubilar. Der Inselwirt nimmt häufig verwirrte Touristen in seiner Familienherberge Hostal Petit-Breuilh auf. Rubilar kam einst als Polizist auf die Insel und umsorgt nun die wenigen Gäste mit feinen Fischgerichten und vorzüglich zubereiteter Languste.

Gegenüber dem Tresen der kleinen Inselbar liegt auf einer Holztruhe ein ausgestopfter Nasenbär, der seine Pfoten von sich reckt. "Einst kam ein Festlandchilene auf die Insel und brachte die Nasenbären mit", erzählt Ramón, "er wollte die Tiere hier züchten. Ihr Fleisch schmeckt wie Wildschwein." Doch bald schon war der Neuankömmling die Einsamkeit und das Nasenbärenfleisch satt. Er kehrte nach Santiago zurück und entließ die Bären in die Freiheit. Sie sind inzwischen zur Inselplage geworden.

Vom Aussterben bedroht

Seit Alexander Selkirk hier im Jahr 1704 ausgesetzt wurde, hat sich die Insel stark verändert. Einst bedeckte ein Urwald weite Teile, überdauert hat er fast nur an den Nordhängen des Cerro El Yunque. Der Bergwald steht als Biosphärenreservat mit zahlreichen endemischen Arten unter dem Schutz der Unesco. Das Gebirge ragt wild gezackt und abenteuerlich steil fast tausend Meter aus dem Südpazifik.

"Das Gold der Insel ist die Languste": Fischerboote in einer Bucht der Robinsón Crusoe Insel. (Foto: AFP PHOTO/MARTIN BERNETTI)

Bereits der Namensgeber und Entdecker der Inselgruppe, Juan Fernández, wilderte 1564 die ersten fremden Tiere auf der Insel aus. Die Juan-Fernández-Ziegen sicherten später als Beutetier Alexander Selkirks Überleben. Für die sensible einheimische Tier- und Pflanzenwelt wurden sie aber schnell zur Bedrohung. Genauso wie die eingeführten Ratten, Kaninchen und Weidetiere. Viele der einheimischen Arten sind nun vom Aussterben bedroht. Ein großer Teil der Insel ist heute von dürrem Grasland überzogen, auf dem Pferde und Kühe weiden und Hunderte Kaninchen grasen. Erosion ist an vielen Orten zum Problem geworden, seit kein Wald und keine Wurzeln die Erde mehr halten.

Am Mirador Selkirk machen zwei Insulaner Pause. Von dem Aussichtspunkt blickt man weit über dunkles Urwalddickicht auf den tiefblauen Pazifik. Selkirk soll hier einst täglich nach Schiffen Ausschau gehalten haben. Die bärtigen Männer sind mit zwei Pferden und zwei Hunden auf Ziegenjagd. An ihren Satteln haben sie Gewehre und Lassos befestigt. Michael Perez und Manuel Kötzing trinken Dosenbier und sind bester Laune. "Mein Großvater, ein Deutscher, kam einst als Pirat auf die Insel", erzählt Kötzing. "Er verführte meine Großmutter. Die war gerade einmal 14."

Und noch eine Erinnerung an die Deutschen haben sie hier: Im März 1915 boten die Insulaner dem Kreuzer SMS Dresden in einer Bucht Unterschlupf, einem Kriegsschiff, das in der Seeschlacht bei den Falklandinseln der britischen Marine entkommen war. Diese spürte den Kreuzer dort allerdings auf und beschoss ihn, woraufhin der Kommandant das Schiff versenken ließ. Hinter dem Inselfriedhof am Rand der Cumberlandbucht steckt noch heute eine Granate, die angeblich von den britischen Kreuzern stammt. Das Wrack in 60 Metern Tiefe ist heute chilenisches Nationaldenkmal.

"Die Dresden ist nach Alexander Selkirk das zweitwichtigste Ereignis in der Geschichte der Insel", sagt Guido Balbontin. Der 62-jährige Kunsthandwerker baute über Jahre das Inselmuseum auf und trug dort Gegenstände zusammen, die von der Dresden stammen. Zum Gedenken an das Kriegsschiff hat Balbontin auch seine Inselband Dresden genannt. Text und Musik schreibt er mit viel Schmelz selbst. Er und seine Bandkollegen besingen nicht nur das Schicksal des Schiffs, sondern auch den einsamen Alexander Selkirk, habgierige Schatzsucher - und das Tier, das die Fluggäste hier gefangen hält: "Das Gold der Insel ist die Languste", heißt es in einem der Lieder.

Einsamer Bierbrauer, aber glücklich

Guido Balbontin ist selbst ein Gestrandeter. Mit 19 Jahren kam er aus Neugierde vom Festland auf die Insel - und blieb. "43 Jahre in dieser Einsamkeit hier, nein, ich könnte nicht mehr woanders leben", sagt er. Seine vier Kinder sind auf der Insel geboren. Heute werden schwangere Frauen zur Geburt nach Santiago ausgeflogen. Ein Nachbar von ihm, Claudio Matamala Morales, ist ebenfalls ein Zugezogener. Vor 15 Jahren kam er als Tourist nach Robinsón Crusoe und war so begeistert, dass er sich zwei Jahre später als Verwaltungsangestellter hierher versetzen ließ. Morales ist zudem der Bierbrauer der Insel. Vielleicht der einsamste der Welt, und er wirkt nicht wie der unglücklichste. "Die Einsamkeit stört mich nicht. Im Gegenteil, ich liebe das ruhige Leben hier", sagt er. Nur seine Frau konnte die Abgeschiedenheit auf Dauer nicht ertragen. Sie kehrte vor zehn Jahren auf das Festland zurück.

Sein Cerveza Artesanal Archiépelago hat es bereits über die Insel hinaus zu Berühmtheit gebracht. Die Lager-Variante mit Namen Robinson und sein Stout Ale Alejandro Selkirk haben Preise gewonnen. "Es mag an der einzigartigen Reinheit und Beschaffenheit des Inselwassers liegen, dass das Bier so gut ankommt", sagt Claudio Matamala. Das Malz importiert er aus Belgien. 2014, wenn sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges jährt, soll eine neue Marke hinzukommen. Heißen soll sie, natürlich: Dresden.

Robinsón Crusoe Insel San Pietro Robinsón Crusoe Insel San Pietro (Foto: SZ Grafik)

Neuer Tag, neuer Versuch, von der Insel abzufliegen. Teresa Maldonado hat heute knallroten Lippenstift aufgetragen und strahlt. Sie bietet den zwei Reisenden, die auf das Flugzeug warten, Zigaretten an und lehnt sich an die Wand der Holzhütte ihrer Fluggesellschaft. "Keine Sorge, heute fliegt die Maschine", sagt sie. "Ohne Langusten." Dann erzählt sie von einem japanischen Pärchen, das vor Jahren nur zum Dinner eingeflogen war und dann wegen schlechten Wetters zwei Wochen festsaß. Die Insulaner versorgten sie mit Essen und Unterwäsche, weil die Japaner nicht ausreichend Bargeld bei sich hatten. So lange, sagt Maldonado, müsse heute aber niemand mehr warten.

Dann bringt Teresa Maldonado die Passagiere persönlich zu dem Motorboot, das sie zum eine Stunde entfernt liegenden Flugstreifen am anderen Ende der Insel bringt. Im Wasser schwimmen Juan-Fernández-Robben. Zwei Fischer ziehen ein Boot an Land. Über der grünen Felswand des El Yunque ist der Himmel aufgerissen, nun scheint die Sonne. Ach, zwei, drei Tage hätte man hier auch noch länger stranden können, auf dieser Insel der Einsamkeit.

Informationen

Anreise: LAN fliegt von Frankfurt nach Santiago, hin und zurück ab 789 Euro, www.lan.com. Von dort weiter zur Robinsón-Crusoe-Insel mit Areolineas ATA, feste Flugpläne gibt es nicht, www.aerolineasata.cl

Übernachtung: Hostal Petit-Breuilh von Inhaber Ramón Baeza Rubilar mit empfehlenswerter Küche, Tel.: 0056/995 49 90 33, DZ mit Frühstück ab 26 Euro, E-Mail: crusoepetit@hotmail.com

Weitere Auskünfte: Zum Juan-Fernandez-Archipel: www.comunajuanfernandez.cl und www.chile.travel; zum Inselbier: www.cervezaarchiepelago.cl; die Insel hat einige Wanderwege durch teils spektakuläre Landschaften oder zu verschiedenen Robbenkolonien in versteckten Buchten. Die meisten Touren lassen sich auf eigene Faust unternehmen.

© SZ vom 16.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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