Wer seine Skier frühmorgens durch das Bergdorf Mazeri trägt, muss erst mal im Slalom um Dutzende Kühe und Ochsen herum. Die stehen hier stoisch auf den schmalen Wegen und erfüllen eine wichtige Funktion: Das Eis ist weniger rutschig, wenn ein gefrorener Kuhfladen darauf liegt. Und es liegen sehr viele Kuhfladen auf den Wegen. "Unsere Designerkühe", sagt Richard Bærug - weil die Tiere besonders schön gescheckt sind - und geht voraus, die Tourenski geschultert. Die Bauern grüßen den hageren, großen Mann freundlich, jeder im Dorf kennt ihn, und die meisten wissen, dass der Norweger ein ziemlicher Segen für das Bechwi-Tal ist.
Holzrauch liegt in der Luft, Hunde kläffen, hier im Dorf ist noch Schatten, aber 3000 Höhenmeter weiter oben treffen die ersten Sonnenstrahlen auf den Südgipfel des Uschba. "Der Schreckliche" bedeutet das, "Matterhorn des Kaukasus" wird er auch genannt, nur mit dem Unterschied, dass er gleich zwei Gipfel hat, die mit 4700 Meter noch höher als das Schweizer Vorbild sind. Das hier ist Swanetien, eine Region in Georgien, deren Bewohner davon träumen, einmal so erfolgreich zu werden wie das Schweizer Wallis. Daran arbeiten die Leute hier. Auch Richard Bærug. Wobei ihm eher das Ursprüngliche gefällt: "Ich bin ganz froh, wenn unser Bechwi-Tal frei bleibt von Skigebieten."
Vor ein paar Jahren kam Bærug als Tourist hierher, sein einheimischer Bergführer sprach davon, dass seine Familie ein Haus habe, das sie zum Hotel umbauen wollten, aber es fehle das Geld. "Viel Geld!" 3000 Lari bräuchte man wohl, sagte der Bergführer - das waren 1000 Euro. "Als er mir das Haus zeigte, inmitten von blühenden Bergwiesen, mit Blick auf den Uschba, da waren meine letzten Zweifel beseitigt - und ich wurde Hotelinvestor", sagt Bærug. Man besiegelte das Ganze per Handschlag, und ein Jahr später war das "Grand Hotel Ushba" bereit für die ersten Gäste.
Das "Grand" im Namen ist leicht ironisch zu verstehen, hat das Hotel in zwei Gebäuden doch gerade mal 13 Zimmer. Der 51-Jährige lebt das halbe Jahr hier, managt und kellnert, und manchmal geht er, wie heute, mit seinen Gästen auf Skitour, um ihnen die schönsten Plätze des an außergewöhnlichen Schönheiten reichen Bechwi-Tals zu zeigen. Die Tour führt an frühlingshaft gurgelnden Bergbächen entlang durch das verlassene Dorf Gul hinauf zur Gul-Alm, deren Holzhütten unter einer dicken Schneedecke liegen. Man kommt dem Uschba immer näher, sieht die Gletscher unter den Felswänden, und mit der Perspektivveränderung schält sich der Nordgipfel hervor hinter dem Südgipfel. Letzterer, erzählt Bærug, wurde 1903 von einer österreichischen Expedition erstbestiegen, er galt damals als einer der schwierigsten Gipfel der Welt.
Lascha Pangan (Mitte) hat die Zukunft fest im Blick: Er will fort zum Studieren, um später in seinem Tal etwas aufzubauen.
Turmbewehrte Dörfer wie Mestia prägen sein Land.
Hier gibt es keine Zäune: Im Bergdorf Mazeri stehen Kühe und Ochsen stoisch auf den schmalen Wegen.
Der Norweger Richard Bærug vor dem "Grand Hotel Ushba". Das "Grand" im Namen ist ironisch zu verstehen, hat das Hotel doch gerade mal 13 Zimmer.
Der Südgipfel des Uschba:"Matterhorn des Kaukasus" wird der Berg auch genannt, nur dass er mit 4700 Meter noch höher als das Schweizer Vorbild ist.
Die Innsbrucker Bergsteigerin Cenzi von Ficker war mit von der Partie, musste aber auf den Gipfel verzichten, um zwei verletzte Kameraden zu bergen. Beim Empfang durch den swanetischen Prinzen Dadeschkeliani soll sie so traurig gewirkt haben, dass der ihr aus Mitleid und Bewunderung den Uschba schenkte. Die Urkunde liegt im Alpinen Museum in München. Fortan wurde die Bergsteigerin das "Uschba-Mädel" genannt.
Die Ärztin hat die Zeichen der Zeit erkannt: Sie betreibt nun eine Pension und baut eine weitere
Mehr als 100 Jahre danach zieht Swanetien Jahr für Jahr mehr Touristen an, die bisher vor allem im Sommer zum Wandern kommen. Man kann hier ziemlich gute Trekkingtouren machen, von Dorf zu Dorf. Denn diese liegen recht hoch, wie etwa das als Unesco-Weltkulturerbe geschützte Uschguli mit seinen zahlreichen Wehrtürmen auf 2200 Meter. Aber auch der Wintertourismus wird entwickelt. Gerade entstehen erste Skigebiete, zum Beispiel jenes von Tetnuldi, am Fuß des gleichnamigen, 4858 Meter hohen Berges. Der erste Lift hat im Februar geöffnet, und Adoli Goschteliani ist mächtig stolz darauf.
Er ist ein Mann, mit dem man nicht in Streit geraten möchte: wortkarg, Charakternase, grauer Fünftagebart und Hände groß wie Suppenteller. Er ist Vizedirektor der Skilifte hier und gibt sich überzeugt, dass das mal ein international erfolgreiches Skiresort wird. "Bis Jahresende bauen wir noch fünf Lifte, mit 9,5 Kilometern werden wir die längste Piste des Kaukasus haben", sagt er, während er im bisher einzigen, aber hochmodernen Sessellift der französischen Firma Poma mit nach oben fährt. Die Investition, zum Teil mit Krediten aus Frankreich finanziert, betrage 100 Millionen Dollar. "Wenn wir hier fertig sind, wollen wir auf der anderen Talseite ein Gletscherskigebiet bauen", sagt Goschteliani.
Von der Bergstation geht der Blick auf die perfekte, vergletscherte Pyramide des Tetnuldi. Das Skigebiet mit seinen wirklich schönen Pisten soll bis auf 3200 Meter reichen, wenn es fertig ist. Da es bisher noch keinen Verbindungslift aus dem Tal gibt, kann man den Tetnuldi aber nur mit Geländewagen erreichen. Die Nebenstraßen sind generell unasphaltiert und im Winter nicht geräumt. Immerhin fährt vom Hauptort Mestia ein zum Bus umgebauter spätsowjetischer Laster die 18 Kilometer hinauf zum Skigebiet.
Unten, in Mestia, der auf 1500 Meter gelegenen Hauptstadt Swanetiens, herrscht Aufbruchsstimmung. Mestia ist eine Art San Gimignano des Kaukasus, nur deutlich spektakulärer, weil fast jedes zweite Haus einen steinernen, mittelalterlichen Wehrturm besitzt. Die Anlagen dienten als Schutz vor Lawinen und Erdrutschen, besonders aber als Rückzugsort, wenn man in Streit mit einem Nachbar-Clan kam. Das kam wohl oft vor, die Swanen waren ein kriegerisches Volk, hatten aber wegen der abgeschiedenen Lage keine äußeren Feinde. Auch in Mestia sind Kühe auf den Straßen, überall entstehen neue Gästehäuser, Cafés und Hotels, die Türme werden nachts beleuchtet; es gibt ein sehenswertes, zeitgemäßes Museum zur Geschichte Swanetiens und einen kleinen Flughafen mit modernem Empfangsgebäude.
Tea Zhorzholiani, ausgebildete Ärztin und Mutter von fünf Kindern, hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie hat ihren kleinen Supermarkt aufgegeben und in ein Gästehaus samt Restaurant namens Uschba im Zentrum von Mestia investiert. Gebratene Bachforellen, Auberginengemüse mit Koriander, die typischen, mit Fleisch oder Käse gefüllten Kubdari-Fladenbrote - alles wird auf einem alten Holzofen zubereitet. "Den Ofen haben wir behalten, weil er den Touristen so gut gefällt", sagt Zhorzholiani. Vergangenen Sommer hätten sie einen regelrechten Boom erlebt, mit "Israelis, Deutschen, Balten". Doch es kämen auch jeden Winter mehr Gäste.
Es laufe so gut, sagt die Unternehmerin auf der mit Liegestühlen versehenen Terrasse ihres Gästehauses, dass sie eine weitere Pension bauen wolle, mit 24 Zimmern, unten am Fluss. Bald solle ein Gesetz in Kraft treten, das Tourismusunternehmer in Berggebieten von der Steuer befreie, sagt Zhorzholiani, das sei gut. Sie ist Anhängerin des "Georgischen Traums", der Regierungspartei, hinter der Bidsina Iwanischwili steht, der reichste Mann Georgiens. 2012 hatte er den langjährigen, immer mehr durchdrehenden Präsidenten Micheil Saakaschwili bei den Wahlen besiegt. Ironischerweise war es der heute gehasste Saakaschwili, der die touristische Entwicklung Swanetiens angeschoben hat, mit Straßenbau und Skigebieten.
In Mazeri, das man von Mestia in einer Fahrtstunde über eine Schneematschpiste erreicht, ist man noch nicht ganz so weit. Die meisten Menschen hier sind Selbstversorger, Jobs gibt es kaum, das Leben ist beschwerlich. "Die Politiker fördern den Tourismus vor allem in Mestia, auch die meisten Fremdenführer kommen von dort, und wir schauen zu", sagt Ämiran Pangan. "Die Menschen hier müssen halt selbst aktiv was tun", gibt ihm seine Frau Tiniko Kontra. Die Ärztin und der pensionierte Grenzwächter leben in einem relativ großen Haus in Mazeri. In der warm geheizten Stube liegt ein Säugling in der Wiege, es ist ihr Enkel, den sie nun betreuen, weil ihre Tochter mehrere Monate in Tiflis ist, um dort ein Praktikum zu machen. "Tourismus ist hier die einzige Möglichkeit zur Entwicklung", sagt die Ärztin, die so schlank und drahtig ist, weil sie ihre Patienten im ganzen Bechwi-Tal zu Fuß besuchen muss.
Ihr jüngster Sohn Lascha lebt noch zu Hause, er macht in diesem Jahr Abitur in der Bergschule, in der Schüler von der ersten bis zur zwölften Klasse unterrichtet werden. "Ich will Schauspieler werden. Wenn das nicht klappt, studiere ich Betriebswirtschaft," sagt er ernst. Lascha hilft im Sommer in Bærugs Grand Hotel Ushba aus, und er arbeitet als Trekking-Guide, führt Touristen zu Fuß oder mit Pferden etwa zum Uschba-Gletscher. Lascha ist auch einer der besten bei den jährlichen Langlaufwettbewerben. Die hat Bærug neu belebt, nachdem die Einheimischen das Langlaufen in den Achtzigerjahren von heute auf morgen eingestellt hatten. "Vielleicht aus Frustration, weil sie immer gegen die Russen verloren bei Olympia", scherzt Bærug.
Ihm geht es hier um viel mehr als nur um sein Grand Hotel, das er mit seinem einheimischen Partner Arkadi Argvlian betreibt. Dessen gemütliches, mit Holzofen beheiztes Restaurant dient auch als eine Art Gemeindesaal. Prämierungen für die Langläufer, Chorkonzerte der polyfonen georgischen Musik sowie ein Literaturwettbewerb finden hier statt. Letzteren hat ebenfalls Bærug ins Leben gerufen, damit Jugendliche in ihrer Muttersprache schreiben. "Swanetisch ist eine der ältesten noch gesprochenen Sprachen der Welt", erklärt Bærug, der sie selbst versteht und spricht.
In den Schulen werde aber nur auf Georgisch unterrichtet, und selbst in den Familien sei die Sprache auf dem Rückzug. Mit dem Kurzgeschichten-Wettbewerb will er den Stolz der Jungen auf die eigene Sprache fördern. Lascha hat auch eine Geschichte beigetragen, es geht um eine arrangierte Ehe und die Rebellion dagegen. "Das bleibt für immer", sagt er, "damit trage ich dazu bei, dass unsere Sprache nicht ausstirbt." Dennoch wird er das Tal verlassen und zum Studium nach Tiflis gehen. "Aber ich kann mir gut vorstellen, später in meinem Dorf hier etwas aufzubauen."