Dokumentarfilm:Verlorene Söhne

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Weiße Würfelhäuser in Pisticci, einem Städtchen in der Basilikata. (Foto: mauritius images/ClickAlps)

Luigi Vitelli hat einen Film gedreht über die Menschen, die die Basilikata verlassen haben. Auch er selbst ist zurückgekommen.

Von Helmut Luther

Luigi Vitelli führt auf eine Aussichtsterrasse am Altstadtrand von Pisticci. Blickt man hier über die kahlen Hänge aus weißer Tonerde, von der Witterung gezeichnet wie eine rissige Elefantenhaut, und dann hinunter auf die mit Zitrusplantagen bedeckte Ebene, kann man hinter einer Dunstglocke das Ionische Meer erahnen. Ein Großteil der Touristen, die es in die süditalienische Region Basilikata verschlägt, bliebe dort an der Küste, sagt Vitelli. Landeinwärts spiegeln sich die Dächer von Fabrikhallen in der Sonne, viele marode und schon lange leerstehend. "Wir sind seit Generationen ein Auswandererland", sagt Vitelli.

Der 40-Jährige ist Autor des Dokumentarfilms "Vado Verso Dove Vengo", "Ich gehe dorthin, wo ich herkomme", ein Projekt im Rahmen der "Matera Europäische Kulturhauptstadt 2019". Im Film geht es um die Lebensgeschichten von Emigranten aus der Basilkata und um die Frage, wie sich das Weggehen auf die Zurückgebliebenen auswirkt. Vitelli kennt das Thema, er lebte selbst in Stockholm und London. Während der Recherche sei er den Spuren der Emigranten bis nach Amerika gefolgt. Er hat sich inzwischen an der Piazza dei Caduti, die von einem martialischen Marmordenkmal für die Gefallenen beherrscht wird, vor ein Café gesetzt. An den Nachbartischen verzehren Signoras mit Pistaziencreme gefüllte Mürbeteigschiffchen. Vor dem Denkmal steht ein Auto im Halteverbot, umkreist von einem Polizisten in Signalweste, der in seine Trillerpfeife bläst.

Die meisten Dörfer der Basilikata lägen weit weg von den Zentren, es fehlten Arbeitsplätze und Verbindungen, sagt Vitelli. In ein oder zwei Generationen würden diese Dörfer zu Geistersiedlungen, "ein globales Phänomen". In New York traf er sich mit den Nachfahren von Italienern, die Anfang des 20. Jahrhunderts oder in den 1950er Jahren ausgewandert waren. Der Kontakt mit der Heimat, das Festhalten an der Sprache, an den Bräuchen sei in diesem konservativen Milieu als moralische Pflicht empfunden worden. "Die Immigranten wollten irgendwann zurückzukehren - was in den meisten Fällen nie geschah." Ganz anders verhielten sich Auswanderer der Gegenwart. "Da werden gleich alle Brücken abgerissen", sagt Vitelli.

Sein Film handelt auch von einer Gegentendenz: Einige kommen wie Vitelli zurück. Man verdiene vielleicht weniger, für das geerbte Haus müsse man jedoch keine Miete bezahlen - auch am Heimatort böten sich Möglichkeiten. Vitelli lebt heute in seiner Heimatstadt als Dokumentarfilmer, Kulturpromotor und Museumsdesigner. Weltweit gründeten Rückkehrer kleine Unternehmen, sagt er, es finde ein Wissenstransfer statt, durch die Schaffung neuer Existenzen profitierten die Herkunftsgesellschaften. Als Beispiel für seine Region nennt er Pietrapertosa und Castelmezzano: Zwischen beiden Dörfern, die sich am Rand einer Schlucht gegenüberliegen, werden seit einiger Zeit Drahtseilflüge angeboten. Es kommen so viele Touristen, dass Zimmervermieter, Restaurant- und Barbetreiber ein Auskommen finden.

"Machen wir eine Runde", schlägt Luigi Vitelli vor. Im Rione Dirupo, dem ältesten Viertel von Pisticci, ragen die Reste einer Festung empor. Zwischen den würfelförmigen Häusern fand seit 1999, jeweils im August, das Lucania Film Festival statt. Vitelli war einige Jahre der künstlerische Leiter. Jedes Jahr werden etwa 60 Filme aus 50 Ländern gezeigt. Weil die Altstadt für das Ereignis längst zu klein ist, dient nun ein Park in der Ebene als Austragungsort. Auch das Filmfestival ist eine Erfolgsgeschichte. Luigi Vitelli kennt einen Besucher, der so begeistert war, dass er beschloss, herzuziehen.

© SZ vom 11.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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