Colorado:Das Leben ist ein langer wilder Fluss

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Beim Rafting-Trip auf dem mächtigen Colorado im Canyonlands Nationalpark geht der Mensch auf Tuchfühlung mit der Dimension Zeit. Und durch den Magen des Teufels.

Ingo Hübner

"Ride it, Cowboy!", schreit Christina mit heiserer Stimme gegen den Fluss an, während sich das Boot Stromschnelle Nummer sechs, North Sea, unaufhaltsam nähert. Christina ist übrigens Hausfrau aus Sacramento und könnte glatt als Rentnerin durchgehen. Irgendwie hat es ja auch was vom Rodeo, wenn die Stromschnellen mit dem Boot spielen und die Insassen sich an die Halteseile klammern, um nicht von den Wellen von Bord gerissen zu werden.

Das Grollen des Flusses wird jetzt lauter und tiefer. Von allen Seiten spritzt Wasser und der Colorado schäumt und gurgelt, als ob es in den Schlund der Hölle hinabgehen würde. In Sekundenschnelle türmt sich vor uns eine mannshohe Welle auf und trifft mich mit der Härte einer Betonmauer. Den Cowboy hätte es beinahe aus dem Sattel gespült.

Im Cataract Canyon zeigt der Colorado sein wahres Gesicht, verwandelt sich vom gleichmütigen, braunen Strom in ein tückisches, gurgelndes, tosendes Wellenbad. Auf einer Länge von zwanzig Meilen folgen je nach Wasserstand bis zu dreißig Stromschnellen mit wenig Vertrauen erweckenden Namen wie "Big Drop", "Big Wave", "Little Niagara" oder "Satan´s Gut", was so viel heißt wie "der Magen des Teufels".

An dieser Stelle hat der Colorado schon viele Boote geschluckt und sie Meilen stromabwärts wieder ausgespuckt, klärt Bootsführer Toby seine Mannschaft über die Herkunft des netten Namens auf. Vorher kommt aber noch Big Drop, eine Serie von drei aufeinander folgenden Stromschnellen. Und hier passiert es: Der Colorado fordert seinen Tribut.

Nicht von uns - zum Glück! Es erwischt Brian mit seinen Mannen - das Boot, das uns seit dem zweiten Tag auf der Tour begleitet. Der Fluss zieht das knapp sieben Meter lange Gefährt quer in die zweite Stromschnelle hinein und die nächste Welle kippt es mühelos um. Wer auf der vorderen, in dieser Sekunde oberen, Seite sitzt, wird katapultartig ins Wasser befördert. "Schnell, Kameras wegpacken und festhalten", Toby lässt den Bordmotor aufheulen, "wir müssen die Leute aus dem Wasser holen".

Schnitt.

Zurück an den Anfang, 70 Meilen stromaufwärts. Moab, sieben Uhr morgens. Ziemlich unchristliche Zeit für den Start zu einer viertägigen Rafting-Tour auf dem Colorado durch den Canyonlands Nationalpark. Da hält sich die Gesprächsbereitschaft der Teilnehmer noch in Grenzen. Erst als es ans Beladen unseres schwimmenden Zuhauses auf Zeit geht, lockern sich die Zungen.

"Glaubt Ihr denn, dass Ihr genug Bier dabei habt? Die Fahrt wird lang", scherzt Toby beim Verladen der vier Kartons voller Dosen. "Naja, zur Not können wir ja noch Nachschub ordern", gibt er zu bedenken, ohne eine Antwort abzuwarten. Wir sind aber doch nur zu sechst!

Da ist George, stolze 82, mit schlohweißem Haar und Muhammed-Ali-Nase, die an den Seiten ganz schön ausgefranst ist. Die Geschwister Scott und Carol, ursprünglich aus Chicago. Der Reporter und seine Fotografin. Und natürlich Toby, Bootsführer, Geschichtslexikon und Sternekoch in einem. Toby ist dieser Typ, den nie etwas aus der Ruhe bringt. Beendet jeden Satz mit einem kurzen heiseren Lacher. Das verleiht seinen Aussagen etwas Unausweichliches - womit sich auch die innere Ruhe erklärt.

Aufstieg in einen Seitencanyon (Foto: Foto: Hübner)

Schnell noch das Boot vorgestellt: Es ist ein so genanntes J-rig, eine Konstruktion aus drei zu einem Floß verketteten luftgefüllten Schläuchen, die irgendwie an überdimensionierte Bananen erinnern. Hinter einem blau gestrichenen Holzkasten, der Proviant und Gepäck beherbergt, liegt Tobys Reich. Das Schöne: Ein kleiner Außenbordmotor erspart die Paddelei. 100 Meilen auf dem Fluss, das hätte anstrengend werden können.

So treiben wir auf der Strömung dahin, durch ein gewaltiges Stück Erdgeschichte, das der Colorado mit stoischer Gelassenheit - so wirkt er jetzt - im Laufe der Jahrmillionen im Sandstein freigelegt hat. "Der Fluss ist ein Weg durch die Zeit", sagt Toby kurz nachdem wir die Grenze des Canyonlands Nationalpark passiert haben.

Links, vielleicht 60 Meter über dem Fluss, zieht sich eine waagrechte, weiße Linie durch den rotbraunen Stein. "Wir nennen sie die 'weiße Linie', wir sind hier erdgeschichtlich im Perm, vor etwa 280 Millionen Jahren. Am Ende der Reise werden wir bei 450 Millionen Jahren sein." Dann zählt Toby die Formationen auf: Navajo, Kayenta-, Kaibabsandstein.

Profan klingende Namen, um den Dimensionen der Natur gerecht zu werden, für den Menschen Werkzeug um unvorstellbare Ausmaße an Zeit zu zerstückeln, zu kategorisieren und in fassbare Formen zu zwängen.

Tatsächlich regiert hier draußen nicht der Mensch. Er ist nur einen Wimpernschlag lang Zeuge dieser Landschaft, dann wird er auf dem großen Strom der Zeit davongetragen. Bis heute ist die Ecke im Südosten Utahs eine der am wenigsten erschlossenen und unzugänglichsten Regionen der USA geblieben.

Überhaupt wurde sie erst vor mehr als etwas 100 Jahren von Weißen erkundet. Der Geologe John Wesley Powell machte sich mit neun Mann und vier Booten im Jahr 1869 auf die gefährliche Reise. "Was sollen wir finden?" schrieb Powell in seinen Notizen. Nach drei Monaten, als sie das Ende des Grand Canyons erreichten, hatte er eine Antwort: Ein bizarres Land aus nacktem Stein mit kathedralenartigen Felsen, hunderte oder tausende Fuß hoch und Canyon-Wänden, die den mächtigen Colorado zur Bedeutungslosigkeit degradieren. Vier Mann verloren bei der Expedition ihr Leben.

Ein Hauch von Abenteuer

Der Hauch des Abenteuers ist immer noch präsent, doch so gefährlich wie damals ist es nicht mehr. Nur ein Mann ist in den letzten Jahren ertrunken und das auch nur, weil er die Schwimmweste nicht richtig angelegt hatte. Das haben die Behörden nach der Entdeckung der Leiche herausgefunden, erzählt Toby, als er seine "Freiluftküche" aufbaut.

Indian Creek nennt sich die Sandbank, auf der wir unser erstes Nachtlager aufschlagen. Gezwängt zwischen die Sandsteinwände, die auch nach dem Sonnenuntergang noch eine Hitze wie ein Brutkasten abstrahlen. Das lässt sich nur mit eiskaltem Dosenbier ertragen. Wir sitzen auf Campingstühlen am Ufer, essen Hähnchen-Cordon-Bleu. Reden, scharren mit den Füßen im Sand und trinken noch mehr Bier. Suchen Sternenbilder am Nachthimmel.

Am nächsten Tag sind wir bereits eine eingeschworene Gemeinschaft, die Ankunft des zweiten Bootes wird mit Argwohn beobachtet. Aber gut, man begrüßt sich förmlich, nimmt Gepäck mit an Bord und hofft, dass die anderen auf ihrem Paddelboot bleiben. So fließt der zweite Tag dahin. Mit der Schwimmweste an lässt es sich gemächlich kühl dahintreiben. Wer will schon bei 40 Grad auf dem Boot sitzen?

Am Morgen nach einem Fluss-Camping geht es weiter. (Foto: Foto: Hübner)

Schwimmend geht es an Island in the Sky vorbei, den wohl markantesten Plateaus und Felsnadeln im Park. Als man im Park noch Uran abbaute, das war immerhin bis Anfang der achtziger Jahre, diente der Ort als Flugzeuglandebahn, um Minenarbeiter ein- und auszufliegen. Wenn man Island in the Sky aus der Nähe sieht, glaubt man es erst recht nicht.

Schwimmweste ist Pflicht

Kurz danach ist der harmlose Teil der Reise vorbei. Nach dem Zusammenfluss mit dem Green River, der von Osten in den Colorado mündet, ist es Vorschrift die Schwimmwesten ständig zu tragen. Ein kleines Schild am Ufer trägt die Aufschrift "Danger! Rapids below". Doch bis zum zweiten Nachtlager tut sich nicht mehr viel.

Umsonst geschwitzt.

Auf der Fahrt sind sich die Insassen der Boote dann doch noch ein wenig näher gekommen. Aus Norwegen stammt die klassische Kleinfamilie. Tim und Christina, ein Paar aus Sacramento. Und Uli mit Sohn Felix. Steuerberater. Brian heißt ihr Steuermann. Schwarzbraun gebrannter, ständig Kautabak kauender und dabei redender Draufgängertyp. Mitte zwanzig erst und schon hat er sämtliche Rafting-Flüsse in Mittelamerika befahren. Noch nie gekentert, berichtet er stolz beim Gemüseschneiden für den Vorspeisenteller.

Zusammen laufen Toby und Brian "in der Küche" an diesem Abend zu Höchstform auf: Es gibt italienische Pasta mit Frischkäse gefüllt, dazu wird frisch gebackenes Knoblauchbrot gereicht. Vor uns rauscht der Colorado vorbei. Später an diesem Abend wird der Mond hinter der sichtbaren Kante des Canyons versinken und mit seinem gelblich weißen Licht den Sandstein gespenstisch beleuchten. Dann wird nur noch das zeitlose, immerwährende Geräusch des Flusses zu hören sein, wenn alle in ihren Zelten liegen und schlafen.

Aufstieg in einem Seitencanyon

In der Wüste schürt die Nacht die Sehnsucht und der Tag verspricht Qualen. Ganz besonders gilt die zweite Regel für Wanderungen. Toby hat so einen viel versprechenden Vorschlag gemacht: einen Seiten-Canyon hinaufzusteigen und den Fluss von oben zu bewundern. Dabei hat er allerdings verschwiegen, dass man dazu das Geschick einer Bergziege benötigt. Von oben sieht der Colorado dann aus wie eine zahme, braune Schlange, die sich durch die Felslandschaft windet.

Das Dramatische sind jetzt die Sandsteinschichten selbst. Unter dem Druck der Jahrmillionen gedehnt, verschoben, geborsten. Ein von den Launen der Natur gequältes Colorado-Plateau offenbart sich aus dieser Perspektive. Zumal in der hitzeflirrenden, trockenen Luft nichts den Blick in die Ferne verschleiert. "Ich will ja nicht drängen, aber wir wollen doch heute noch raften." Toby, wie er leibt und lebt, immer den Gelassenen spielen, aber trotzdem ist Zug dahinter.

In den Stromschnellen ist gerade Brians Boot gekentert und Toby versucht mit der vollen Power des Bordmotors, unser Rig gegen die Strömung auf Position zu halten. Brian und die Norwegerin haben sich auf die jetzt oben treibende Unterseite ihres Bootes gehievt, werden von der Strömung Richtung Ufer getragen und signalisieren, dass alles okay ist.

Festhalten! (Foto: Foto: Hübner)

Zwei Köpfe kommen direkt auf uns zu: Felix und Tim. "Schwimmt, schwimmt so stark wie ihr könnt", brüllt Toby und man ahnt, dass es um ihr Leben gehen könnte. Fünf Sekunden später sind sie da, an den Schwimmwesten gepackt, aufs Boot gezerrt. Nur Uli fehlt noch, der treibt gerade vorbei.

Hinterher, was der Motor hergibt. Das Boot ist schnell, doch Uli ist schneller. Raftet die nächsten vier Stromschnellen nur mit Schwimmweste. Respekt.

Minuten später entlässt ihn die Strömung in einer Flussbiegung in Richtung Ufer.

Wir nähern uns, Scott kriegt ihn zu fassen und zieht ein Wasser spuckendes, kreidebleiches Männlein aus dem Wasser. Tapferer Uli, die nächste Stunde spricht er kein Wort. Das war's.

Toby legt an und macht sich flussaufwärts auf den Weg, um Brian zu helfen. Die Sonne ist schon hinter der Canyon-Wand verschwunden, als sie mit dem Boot zurückkommen. Allgemeines Aufatmen, das Abenteuer ist glimpflich ausgegangen.

Nur von Brian hat der Fluss seinen Tribut gefordert: Kopfbedeckung weg, Sonnenbrille weg.

Heute Abend gibt es Rinderfilet-Steak mit Folienkartoffel, dazu Caesar-Salat. Uli spricht wieder.

Später, als schon fast alles schläft, rückt Toby mit der Geschichte von seiner Feuertaufe raus: Letztes Frühjahr, da ist er mit seinem Rig gekentert, als der Colorado noch viel mehr Wasser führte.

Sechs Meter hohe Wellen können eben auch das Rig umwerfen. "Das Boot, oder besser was davon übrig war, habe ich erst am Ende des Cataract Canyon wieder gesehen. Luftkammern aufgeschlitzt, Proviant weg, Gepäck weg. Zwölf Leute waren wir." Er lacht wieder.

Wie gut, dass keiner die Geschichte vorher kannte...

Information:

Utah Fremdenverkehrsamt, Neumarkt 33, 50667 Köln, Tel. 0221/2336 406, Fax 2 33 36 450, E-Mail: utah@getitacross.de, Internet: www.utah.com

Anreise

United Airlines fliegt täglich von Frankfurt nach Salt Lake City, Internet: www.unitedairlines.de

Veranstalter

Den Rafting-Trip durch den Canyonlands Nationalpark bietet TUI als Baustein im Amerika-Programm an. Die hier beschriebene Reise ist der "Raft the Cataract Canyon" mit drei Übernachtungen, Preis: 793 Euro. Veranstalter vor Ort in Moab ist das Unternehmen Tag-a-Long Expeditions, 452 North Main Street, Utah 84532, Tel. innerhalb der USA (800) 453-3292, Fax: +1 (435) 259 8990, E-Mail: tagalong@tagalong.com, Internet: www.tagalong.com, dort nennt sich derselbe Trip "Cataract Canyon Favourite".

Übernachten

Salt Lake City: Best Western Garden Inn, 154 West 600 South, Utah 84101, Tel. +1 (801) 521 2930, kostenlos innerhalb der USA: (800) 521 9997, Fax (801) 355 0733, Internet www.bwgardeninn.com Moab: Sleep Inn, 1051 South Main, Utah 84532, Tel. +1 (435) 259 4655, Fax (435) 259 5838, E-Mail: gm.ut005@choicehotels.com Internet: www.moab-utah.com/sleepinn/

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