Chile:Planet der Affen

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Das Cochamó-Tal in Chiles Regenwald ist nur schwer zu erreichen und wirkt wie eine andere Welt. Doch das Paradies für Big-Wall-Kletterer und Abenteurer ist bedroht. Auch durch die Besucher.

Von Florian Sanktjohanser

Das Leben im Paradies kann karg und frostig sein. Aber Mono will nicht klagen, hier am Lagerfeuer, unter den Sternen. Nicht über die harte Arbeit, nicht über das kalte Wasser, mit dem er sich wäscht, nicht über die Einsamkeit im Winter, wenn er allein in diesem Urwald-Tal in Patagonien sitzt. "Ich bin sehr glücklich, hier zu leben", sagt er. "Ich habe frisches Wasser und frische Luft." Vor allem aber hat Mono die Berge. Tausend Meter hoch ragen ringsum Granitwände auf, von Gletschern zu Kuppeln und Überhängen geschliffen. Nur dafür ist er aus seiner Heimat Argentinien hierhergezogen, ins abgelegene Valle Cochamó in Chile: um jeden Tag zu klettern.

"Das Yosemite Südamerikas" nannten US-Zeitungen und Klettermagazine das Tal. Einer dieser lächerlichen Superlativ-Vergleiche. In diesem Fall aber eher untertrieben. Tatsächlich ist Cochamó so schön, wie man sich das Yosemite-Tal vor 200 Jahren vorstellt, ohne Straßen, ohne Busse voll lärmender Touristen. Klare Flüsse strömen durch den Regenwald, auf den Hängen wachsen uralte Baumriesen, Wasserfälle stürzen die Felswände herab.

"Ich sah diese Berge und war sofort hingerissen", erzählt Christian Gallardo Lancaqueo, wie Mono bürgerlich heißt, von seinem ersten Besuch vor 13 Jahren. Seitdem ist er immer wieder gekommen, vor fünf Jahren schließlich blieb er. Mono ist so etwas wie der Hausmeister des Tals, er kümmert sich um die Schutzhütte und den Zeltplatz. Der 30-Jährige ist klein, drahtig und hat kräftige Pranken. Daher sein spanischer Spitzname: Mono, Affe.

Früher schauten ab und zu ein paar fanatische Kletterer aus den USA und Europa im Tal vorbei, meint Mono, das war's. In den vergangenen Jahren aber explodierte die Zahl der Besucher, angelockt durch Sehnsuchtsbildern mit einer Mischung aus Regenwald, Flüssen und hohen Bergen. "Nur zehn Prozent der Gäste klettern heute", sagt Mono. Die übrigen sind Mochillandos, junge Chilenen, die mehrere Monate mit dem Rucksack durch ihr Land reisen. Ausländische Touristen dagegen haben meist noch nie von Cochamó gehört. In Reiseführern kommt das Naturjuwel als Randnotiz vor, wenn überhaupt. Der Grund dafür ist einfach: die Anreise.

Rinder und Regen höhlten den Weg aus. Heute ähnelt er einem Schützengraben

Der Trek durch den Urwald beginnt bei Claudio Sandoval. Er lebt mit seiner Frau ein paar Kilometer hinter dem Fischerdorf Cochamó in einem Holzhaus. Hier endet die Straße - "Bitte registrieren!", befiehlt ein Schild. 8000 Besucher hätten im vergangenen Jahr in seinem Buch unterschrieben, sagt Sandoval. Allen gibt er einen Tipp mit auf die Wanderung nach La Junta: Nehmt den Weg ernst und geht nicht erst um vier Uhr nachmittags los. "Auch wenn es nur 16 Kilometer sind", sagt Sandoval, "es dauert sechs Stunden."

Warum, sieht man bald. Die Stiefel sinken in den Morast, der Rucksack mit Zelt, Schlafsack und Vorräten zerrt an den Schultern. Dabei trägt Jason Angress, der Wanderguide aus Kalifornien, ohnehin das meiste. Immer gilt es, sich auf Seitenwegen durch Bambus zu zwängen, wenn der Hauptweg zu matschig oder von einem umgestürzten Baum versperrt ist. Nicht gerade Genusswandern, aber der Weg wurde ja auch fürs Vieh gemacht. Seit Jahrhunderten haben die Gauchos auf dem Pfad ihre Rinderherden aus Argentinien über den Paso León zur Pazifikküste getrieben. Zwei von ihnen sollen Butch Cassidy und Sundance Kid gewesen sein. Die Bankräuber hatten sich nach Patagonien abgesetzt, nachdem es ihnen in den USA zu heiß geworden war.

Damit die Rinderhufe nicht in der vom Regen weichen Erde versanken, legten die Gauchos einen Knüppeldamm an. Mittlerweile ist nicht mehr von ihm übrig als zerbrochene und vermoderte Planken. Selbst das Hartholz konnte nicht verhindern, dass Rinder und Regen eine immer tiefere Rinne gruben. Stellenweise ähnelt der Weg einem Schützengraben.

Immerhin wurde vor zwei Jahren eine Hängebrücke gebaut, zusammen mit einem halben Dutzend Holzstegen. Seitdem muss man zumindest nicht mehr durch die Flüsse und Bäche waten. "Aber es ist immer noch wild hier draußen", sagt Angress. "Die Leute haben ein trügerisches Gefühl von Sicherheit." Manche ausgetrockneten Flussarme sehen wie Wege aus, man verläuft sich leicht. Einmal habe er einen wimmernden Touristen gefunden, erzählt Angress, keine 50 Meter vom Weg entfernt, aber verloren. Und wenn es heftig regnet - und das passiert oft - könne der Fluss in wenigen Stunden um Meter steigen.

Jason Angress, 35 Jahre alt, kam vor fünf Jahren aus Tonga nach Patagonien. Auf der Südseeinsel hatte er eine schöne Chilenin getroffen und begonnen, im Internet über ihr Land zu lesen. Dabei stieß er auf Bilder von Cochamó. Und er fand ein Gedicht von Pablo Neruda mit der Zeile: "Wer den chilenischen Wald nicht kennt, kennt diesen Planeten nicht."

Neruda hatte recht. Jeder Stamm, jeder Ast, jeder Fels ist in tausend Grüntöne eingesponnen. Moose polstern den Boden, Bartflechten hängen von den Zweigen und basteln mit am Zauberwald. Irgendwo lacht ein Magellanspecht.

(Foto: SZ-Grafik)

Jason Angress liebt jenes Ökosystem zwischen Pazifik und Anden namens Valdivianischer Regenwald. Obwohl er ein Gringo ist, kennt er ihn wahrscheinlich besser als die meisten Einheimischen. Er doziert über die vier Schichten des Waldes und die drei Arten von Flechten. Er erklärt, dass es hier in der Region Los Lagos, wo die Anden aufs Meer treffen, viele Mikroklimata gibt und damit auch außergewöhnlich viele Arten. Er holt seine Lupe heraus, um die Pracht im Kleinen zu zeigen: Diese Farne da hießen Paraguitas, sagt er. Sie sehen tatsächlich aus wie kleine Regenschirme.

Die letzte halbe Stunde folgt der Weg dem smaragdgrünen Río Cochamó. Im klaren Wasser liegen Baumstämme, die zeigen, zu welcher Gewalt der Fluss anschwellen kann. Und dann, endlich, lichtet sich das Blätterdach, und wir treten hinaus in das Amphitheater aus Granit, Urwald und Schnee, in Szene gesetzt von den letzten Sonnenstrahlen.

Ein einziges Zelt steht auf der Lichtung La Junta, ein paar Kühe grasen. Es ist Nebensaison. Als er das erste Mal hierher kam, erzählt Angress, habe er sein Neruda-Gedicht in eine Tafel geritzt gefunden. "Da wusste ich, dass ich am richtigen Ort angekommen bin."

So ähnlich ging es auch Clark Stede. Der deutsche Abenteurer war lange um die Welt gewandert und gesegelt, bis er Anfang der 1990er-Jahre ins Valle Cochamó kam. Stede sah die Schönheit der Natur, das touristische Potenzial. Er baute das Campo Aventura und ritt mit seinen Gästen durch den Regenwald. Ein paar Jahre später folgten ihm die ersten Kletterer, die sich mit Macheten durch das Bambusdickicht bis zu den Felswänden hackten.

Heute kann man im Refugio Cochamó in Doppelzimmern übernachten, auf dem Zeltplatz stehen Hütten zum Kochen, Kompost-Toiletten und solarbeheizte Duschen. Im Sommer quetschen Wanderer bis zu 400 Zelte auf die Lichtung. "Die Infrastruktur ist nicht bereit für die vielen Gäste, die jetzt kommen", sagt Angress. Der rasant zunehmende Tourismus ist eine Gefahr. Aber vielleicht auch die Rettung.

Junge Chilenen rutschen gerne die Felsen in den Pool hinab - bis der Helikopter kommt

Denn die Energiekonzerne hatten das Tal schon im Blick, am Río Cochamó waren Staudämme und Kraftwerke geplant. Dutzende Firmen stritten angeblich um die Wasserrechte. 2007 erklärte die Tourismusbehörde Sernatur das Valle Cochamó zu einer wichtigen Tourismuszone, von der Unesco wurde es als Biosphärenreservat anerkannt. Und 2008 überzeugte die Organisation Conservación Cochamó die Lokalregierung, die Gegend durch eine Klausel im Wasserrechte-Gesetz zu schützen. Am Ende stoppte Chiles Präsidentin Michelle Bachelet alle Energieprojekte per Erlass. "Es war ein Wunder", sagt Angress. "Aber der Schutz ist schwach." Künftige Präsidenten könnten den Erlass zurücknehmen. Deshalb sei es wichtig, das Tal zum Nationalpark zu erklären. "Das wird aber noch viele Jahre dauern."

Bis dahin gilt es, die Natur im Kleinen zu schützen. Also auch vor den Touristen. "Viele junge Chilenen kommen nur zum Feiern hierher", schimpft Mono. "Sie lassen den Müll da und halten sich nicht an die Regeln." Am liebsten hängen die Mochillandos im Sommer am Wasserfall auf der anderen Seite des Flusses ab. "Der gefährlichste Ort von Cochamó", sagt Jason Angress. "Die Kids haben auf Youtube Videos von Leuten gesehen, die den Felsen runterrutschen. Was sie nicht bedenken, ist, dass die Menge des Wassers schwankt. Und dann schlagen sie unten im Pool auf, das Wasser färbt sich rot, und sie fliegen mit dem Helikopter raus."

Genauso haarsträubend hören sich allerdings Geschichten übers Klettern an. "Man kraxelt Risse in der Felswand empor", erklärt Mono, "nichts für Anfänger." La Junta ist der Startplatz aller Touren. Die schönste, sagt Angress, führe zum Arco Iris, dem Regenbogenberg. Der Weg windet sich zunächst durch Bambusdickicht und führt dann aufwärts zwischen Patagonischen Eiben und Canelos, die den Ureinwohnern vom Stamm der Mapuche heilig sind.

Mit jedem Höhenmeter wird das Unterholz lichter, die Bäume wirken umso gewaltiger und älter. Gelegentliche Plastikbändchen an Zweigen weisen den Weg. Nach eineinhalb Stunden bleibt Angress stehen. "Da, deine ersten Alercen." Die bleichen Bäume sind mehrere Meter dick und gerade wie eine Säule. Ihre kurzen Äste in der Höhe wirken wie die verkümmerten Arme eines Tyrannosaurus Rex. "Sie sind Überlebenskünstler", sagt Angress. Die Patagonischen Zypressen brauchen nur Sonne und viel Wasser, sie wachsen in Sümpfen und auf Klippen, unter schlechtesten Bedingungen. Aber auch extrem langsam. "Diese Bäume standen hier schon, als Sokrates lebte."

Es geht weiter - bis zu einem Felsen, über den Wasser rieselt. Ein verwittertes Seil ist oben an einen gewundenen Stamm geknotet. "Du musst dem Seil vertrauen", sagt Angress. Dann stemmt er die Beine waagrecht in den Fels und zieht sich Hand für Hand hoch. Ich folge ihm und versuche, nicht daran zu denken, was passiert, wenn das Seil reißt. Oben angekommen, meint Angress: "Warte auf den Abstieg."

Am höchsten Punkt ist es windstill, die Sonne wärmt. Vollkommen unpatagonisches Wetter. Nur das Rauschen der Wasserfälle ist zu hören. Mit etwas Fantasie sieht man in der Felswand des Cerro Trinidad einen gigantischen Fußabdruck, die Wand links daneben erinnert an ein Tribal Tattoo. Vier Kondore segeln in Formation in Richtung des Meeres am Horizont. Wie hat Mono gesagt? "Dieser Ort muss geschützt werden."

© SZ vom 28.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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