Australien: Melbourne:Anarchie light

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Melbourne ist Australiens kulturelle Metropole und als solche vor allem eins: sehr entspannt.

Christian Mayer

Man muss sie nicht lange suchen, die seltsamen Graffiti-Wesen von Melbourne, sie sind überall. Ein schwarzes Schattenmonster kriecht grinsend über ein Gemäuer, eine indische Prinzessin lässt sich von ihrem Affen bedienen, eine vollbusige Herzdame in Strapsen wirft den Passanten einen lüsternen Blick hinterher.

(Foto: Reuters)

Katzenwesen, Blumenfiguren und psychedelische Comic-Fische wohnen in engen Gassen der Innenstadt und über den Mülleimern, die in jedem Hinterhof stehen. Inzwischen agieren die nachtaktiven Straßenkünstler auch im Schein der Öffentlichkeit, ganz offiziell auf Einladung der Eigentümer - Museumskuratoren, Galeristen und städtische Behörden werben um sie und erteilen immer öfter die Lizenz zum Sprühen. Das ist gut fürs Image, denn die Touristen lieben die wohldosierte Anarchie.

Australiens zweitgrößte Stadt ist stolz auf ihre Graffiti-Produzenten, die mit ihren Schablonen und Sprühdosen den grauen Wänden ein Gesicht geben. Die Künstler selbst tragen noch immer die Tarnnamen, die längst zum Markenzeichen einer Melbourner Kunstrichtung geworden sind; sie nennen sich Civilian, Prism, Meek, Psalm oder Dlux.

Unverkennbar ist auch die Handschrift einer geheimnisvollen Künstlerin namens Vexta, die mit zarten Frauenporträts und skurrilen Totenschädeln sogar in der National Gallery of Australia einen Platz gefunden hat.

Die an jeder Ecke wuchernde Straßenkunst ist typisch für die Stadt, die seit der Jahrtausendwende ein atemberaubendes Tempo vorlegt. In jüngster Zeit ist Melbourne buchstäblich über sich hinausgewachsen - mit neuen Hochhäusern und einem völlig neuen Quartier an den Docklands.

Das kulturelle Herz der Stadt schlägt aber mitten im Zentrum, am Federation Square, gegenüber der Flinders Street Station, dem neobarocken Bahnhof. Bis zur Eröffnung im Oktober 2002 war der geometrisch anspruchsvolle Entwurf des einheimischen "Lab Architecture Studio" höchst umstritten, doch seitdem haben die Australier die einzigartige Mischung aus Fassadenspielerei, Museumsbetrieb und Vergnügungsstätte lieben gelernt - hier gibt es viele gute Konzerte unter freiem Himmel.

Australien: Metropolen
:Pulsierendes Melbourne

Modern und bunt: Spaziergang durch Melbourne

Unterhalb des Federation Square führt eine kleine Treppe zum Flussufer. Dort hat Murray Johnson seinen Fahrradladen - an der Promenade direkt am Flussufer. Es ist ein Vergnügen, dem freundlichen Murray auf der Spur zu bleiben, denn das grüne Melbourne lädt dazu ein, auf zwei Rädern entdeckt zu werden.

Murray beginnt seine Tour am Yarra River, wo sich spektakuläre Neubauten mit Parks und Cafés abwechseln. Die höchste Aussichtsplattform in Australien ist auf jeden Fall einen Zwischenstopp wert: Nur eine Dreiviertelminute dauert die Fahrt in den 88. Stock des Eureka Tower, ein vor zweieinhalb Jahren eingeweihter Gigant, dessen vergoldete Spitze weithin sichtbar leuchtet. Der Wohnturm soll an die Eureka Stockade Rebellion von 1854 erinnern, als sich Goldgräber aus aller Welt gegen die Obrigkeit von Königin Victoria zusammenschlossen - ein roter Längsbalken in der Goldspitze des Wolkenkratzers symbolisiert den Aufstand der Glücksritter.

Wieder unten, geht es im Zickzack-Kurs durch die noble Collins Street, in der seit dem 19. Jahrhundert die wohlhabende Oberschicht residierte, also all jene einen altenglischen Lebensstil pflegten, die aus der Goldgräberstimmung auch Profit schlagen konnten. In dieser exklusiven Gegend, wo sich heute viktorianische Prunkbauten und glitzernde Markenfassaden vereinen, sieht Melbourne angeblich aus wie Paris - das steht zumindest in jeder Tourismusbroschüre. Murray Johnson muss darüber leise lächeln.

Paris? Nun ja. So sieht er seine Stadt nun gar nicht. Bei allem Sinn für die Ästhetik der alten Welt pflegen die designverliebten Melbourner doch einen sehr eigenen Lebensstil, der sich mal an New York, mal an London, mal an den neureichen Metropolen Südostasiens orientiert. Man treibt Sport in den unzähligen Parks bis zur Erschöpfung, man kleidet sich lässig und verzichtet auf blasierte Inszenierungen, weil bei allen Aktivitäten in der Öffentlichkeit der Spaß im Vordergrund steht. Weder die Finanzkrise, von der gerade Australien massiv betroffen ist, noch die verheerenden Brände im Bundesstaat Victoria Anfang des Jahres haben den grundsätzlichen Optimismus, der diese Stadt so sympathisch macht, abwürgen können.

Besucher aus Europa führt Murray am liebsten ins multikulturelle Fitzroy-Viertel. Zwischen Smith, Gertrude und Brunswick Street blüht eine Subkultur der Eigenmarken. Wer sich für organische Schuhe, hausgemachte Kosmetikartikel, Sechziger-Jahre-Mode und alle Arten von Secondhand-Nostalgie interessiert, wird hier garantiert fündig.

Nirgendwo sind die Graffiti-Künstler der 3,6-Millionen-Stadt aktiver als in Fitzroy; nirgendwo gibt es mehr Kleinbrauereien, Weinhandlungen, Galerien und italienische Cafés. Touristen zieht es auch in die Gründungsfiliale der Firma Crumpler, die weltweit mit ihren bunten Umhängetaschen Erfolge feiert. Während man als Australien-Besucher früher Stoff-Kängurus und schreiend bunte Aborigines-Kunst nach Hause schleppte, muss es heute eben ein Stück Melbourne-Design sein.

Es ist spät geworden, der Yarra River glitzert schon im Abendsonnenschein. Murray Johnsonwidmet sich jetzt wie viele Melbourner seinem Zweitjob - der Bike-Unternehmer arbeitet auch als Nachtredakteur bei der Zeitung The Age. Schon um kurz nach sechs haben die meisten Geschäfte geschlossen, dafür gehen jetzt in den Hinterhofbars, Loftküchen und Kellerlokalen die Lichter an. Beinahe täglich berichtet The Age in einer Gastrokolumne über neue kulinarische Sensationen.

In Melbourne, wo man noch vor 30 Jahren abends lange nach einem guten Restaurant suchen musste, gibt es inzwischen mehr als 18.000 Lokale, was Ergebnis einer äußerst liberalen Lizenzvergabe ist. Das Angebot ist wahrlich überwältigend und verwirrend, doch zum Glück kann man auf das Kartenspiel von Michelle Matthews zurückgreifen: Die Autorin und Kleinverlegerin gibt handliche Editionen mit den besten Restaurants, Bars und Cafés heraus. Wer ihre am Kiosk erhältliche "Deck of Cards" in der Größe einer Zigarettenschachtel mit sich führt, kann eigentlich gar nichts falsch machen.

Derart bestens präpariert, findet man sich im "Press Club" in der Flinders Street wieder. Das vor zwei Jahren eröffnete Restaurant wirkt zwar ziemlich mondän in seiner heruntergedimmten Edel-Schlichtheit, aber der griechische Koch George Calombaris beeindruckt vor allem mit einer verfeinerten, hübsch arrangierten hellenischen Hausmannskost - und einer fast schon größenwahnsinnigen Ouzo- und Weinliste. Klar, dass der 29-jährige Calombaris im kulinarischen Melbourne nun selbst zu den Berühmtheiten zählt. In seinem "Press Club" dinieren allabendlich die Schönen und Schillernden der Stadt, um dann kurz vor Mitternacht in der Art-Deco-Bar "Lily Blacks" oder dem verführerischen Asientempel "Golden Monkey" zu landen. Auch im "Alumbra", im "Eurotrash", "Baroq House" oder "Chaise Lounge" kann man sicher sein, dass die Bar so wirkt, wie der Name klingt.

Zu später Stunde ein letzter Drink in der "Cherry Bar", die etwas versteckt in einer Seitengasse der Flinders Lane liegt. Inzwischen hat die Stadtregierung die Gasse in ACDC Lane umbenannt. Mit einem einstimmigen Votum kam die bekannteste australische Band auf einem eigenen Straßenschild zu Ehren.

Der Name ist Programm. Am Wochenende findet im Cherry, das einem stadtbekannten Schlagzeuger gehört, eine Dauerparty mit Live-Einlagen statt, aber die Rockfans und die Raver bleiben nicht allein. Manchmal rücken auch die Graffiti-Künstler mit ihren Sprühdosen an, um sich gegenseitig den Platz auf der Mauer streitig zu machen. Den Figuren nach zu urteilen, die gerade wieder die ACDC Lane schmücken, ist das hier tatsächlich der australische Highway to Hell - auf Melbourner Art.

© SZ vom 2.4.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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