Abruzzen:Mittendrin

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Die höher gelegenen Bergregionen am Gran Sasso leiden unter Abwanderung. Aber die Wiederentdeckung hat begonnen.

Von Johanna Pfund

La Regina della Rocca, die Königin von Rocca, ruft eine Frau im Vorbeigehen und winkt. Susanna Salvati, die in der Oktobersonne an einem Tisch vor dem Haus sitzt, lächelt und streichelt ihre Katze. Seit einem Vierteljahrhundert lebt sie in Rocca Calascio, einem typischen Abruzzendorf. Steinhäuser kleben übereinander an einem Berghang, enge Gassen führen auf kleine Vorplätze. Oben auf der Kuppe thronen die Überreste der mittelalterlichen Burganlage La Rocca, der höchstgelegenen in Italien. Der Blick reicht weit. Im Osten erahnt man die Adria, im Nordwesten ragt das Felsmassiv des Gran Sasso mit dem Corno Grande heraus - mit 2912 Metern der höchste Berg des Apennin. Davor erstreckt sich das graubraune Hochplateau des Campo Imperatore. Die Bezeichnung "kleines Tibet" passt. Susanna Salvati war eine der ersten, die die raue Schönheit der Region wiederentdeckten. Sie zog vor mehr als 20 Jahren in das damals verlassene Rocca Calascio.

Im 20. Jahrhundert zogen die Leute weg, nach Deutschland oder Nordamerika

Das Dorf auf knapp 1500 Metern Höhe steht stellvertretend für viele Orte in den Abruzzen, oder Abruzzo, wie es im Italienischen heißt. Die nördlichste Region Süditaliens reicht von den Stränden der Adria bis weit in den Apennin, ein durchaus reizvoller Gegensatz. Man kann an einem einzigen Tag zum Skifahren gehen und abends auf einer Promenade seinen Aperitif mit Blick aufs Meer genießen. Oder umgekehrt. Ein Drittel der Fläche mit ihren nur 1,3 Millionen Einwohnern steht unter Naturschutz. Während Industrie und Landwirtschaft in der milden Küstenregion und den niedrig gelegenen Tälern gute Bedingungen finden, ist das Leben in den Bergregionen herausfordernd. Wie Steinhaufen liegen die Dörfer auf Hügelkuppen oder an den Südseiten der Berge, die Verbindungsstraßen schlängeln sich hinauf und hinunter und wollen schier kein Ende nehmen. Weiden oder Linsenkulturen in den wenigen flachen Tälern bestimmen das Landschaftsbild. Im 20. Jahrhundert zogen die Leute weg, nach Nordamerika, nach Deutschland: Dörfer wie Rocca Calascio, etwa eineinhalb Stunden Fahrzeit von Rom entfernt, wurden verlassen.

Salvati aber erkannte die Schönheit des Ortes schon in den 90ern. Damals wohnte sie noch in Rom, arbeitete für ein Informatikunternehmen und hatte gerade ihr erstes Kind bekommen. Stress in der Großstadt. "Da erinnerte ich mich an den Ort, in den ich mich verliebt hatte", erzählt die heute 59-Jährige. Sie fragte in Calascio, dem noch bewohnten Dorf einige Steilkehren unterhalb von Rocca Calascio, nach den Eigentümern der alten Häuser. Keine leichte Mission. Zum einen stieß sie bei den Bewohnern auf völliges Unverständnis für ihren Plan, sich in dem verlassenen Dorf oben am Berg niederzulassen. Zum anderen wusste man nicht genau, wem die Häuser gehörten. Schließlich kaufte sie das alte Pfarrhaus, weil hier wenigstens klar war, dass die Kirche der Eigentümer war. Der Plan, weiter für ihre Firma zu arbeiten, ging für Salvati nicht auf, doch es bot sich eine neue Möglichkeit: Nach und nach renovierte sie weitere Wohnungen im Dorf für ein "albergo diffuso", also eine auf mehrere Häuser verteilte Herberge, sie stellte ein Kulturprogramm auf die Beine, sie zog hier ihre fünf Kinder groß. Einfach war das nicht immer. "Wir hatten keine Erfahrung, wir haben es einfach so gut gemacht wie wir konnten", sagt sie.

In jedem Fall war sie der Motor. Aus dem Geisterdorf ist ein Anziehungspunkt geworden. Auf soziales Leben mussten sie und ihre Familie nicht verzichten - das war eine große Furcht ihrer Mutter gewesen, die den Umzug in die Berge anfangs kritisiert hatte. Doch die Freunde kamen nun nach Rocca Calascio. Und als das belgische Königspaar zu Konzert und Essen in das Dorf auf dem Berg kam, da gab sich die kritische Mutter endgültig geschlagen. Es ist eine schöne Geschichte von der Wiederbelebung eines Ortes, aber als "regina", als Königin von La Rocca, würde sich die 59-Jährige nicht bezeichnen: "Wenn ich es nicht getan hätte, wäre ein anderer gekommen."

Unterhalb der Burgruine La Rocca steht die achteckige „Chiesa della Madonna della Pietà“. (Foto: Johanna Pfund)

Wer weiß. Ihr Vorbild machte Schule. Im nur eine Gehstunde entfernten Santo Stefano di Sessanio, das nur noch auf 1200 Metern Höhe liegt, startete einige Jahre später der dänisch-italienische Investor Nils Kihlgren seine Version des "albergo diffuso". Die Situation war etwas besser als in Rocca Calascio, jedoch nicht wesentlich. In diesem einstigen Zentrum des Wollhandels, an der Hauptwanderroute zwischen Adria und den Bergen gelegen, wohnten nur noch wenige Dutzend Menschen. Kihlgren sanierte nach und nach Häuser. Ein Glück ist die Landflucht gewesen, schreibt Kihlgren in einem Hotelprospekt. So seien Orte wie Santo Stefano der Modernisierung entgangen, die so viel traditionelle Architektur zerstört habe. Er versucht sie trotz Modernisierung zu bewahren.

Darum fühlt man sich in Santo Stefano wohl zu Recht ein wenig wie im Mittelalter. Es gibt hier ein Restaurant in einer großen Halle mit rauchgeschwärzten Wänden, eine Bar für den Aperitivo mit massiven, blank polierten jahrhundertealten Holztischen. Wäre nicht die geschickt eingesetzte elektrische Beleuchtung, man würde sich nicht wundern, würde hier ein Renaissancefürst am Tisch sitzen und seinen Wein trinken. Es war übrigens das Geschlecht der Medici, das hier den Wollhandel kontrollierte, auch das benachbarte Rocca Calascio zählte zum Besitz der Familie. Noch zeigen sich in Santo Stefano Spuren des verheerenden Erdbebens von 2009, bei dem viele Häuser und große Teile der eine halbe Stunde entfernt liegenden Provinzhauptstadt L'Aquila zerstört wurden. Dort hat man einiges wieder aufgebaut, hier in Santo Stefano ist die Zeit offensichtlich etwas stehen geblieben. Der markante Medici-Turm ist eingerüstet, immer noch nicht saniert. Aber, wie die Bautafel ankündigt, es wird etwas getan.

Derzeit leben etwa 100 Menschen in Santo Stefano, die Angestellten des Albergo kommen meist aus den Dörfern der Umgebung. Roberta Dipaolo, in normalen Zeiten für das Event-Management des Hotels zuständig, ist wieder hierher gezogen in die Heimat ihrer Großmutter. "Wir sind der echte Teil Italiens", sagt sie. Es gehe in Santo Stefano um sanften Tourismus, darum, den Gästen zu zeigen, wie früher das Leben hier war - auch wenn Komfort in die steinernen Kammern eingezogen ist.

Die Schönheit des Ortes faszinierte Susanna Salvati so, dass sie in den Neunzigerjahren in das damals verlassene Dorf zog. (Foto: Johanna Pfund)

Sie selbst schätzt an ihrer Region die gewisse Sturköpfigkeit, das Festhalten an Traditionen, wie dem Sonntagsessen mit der Familie. Dass man zum Beispiel zum Grillen zusammenkommt, um den Kontakt zu pflegen und zu reden. Und sie schätzt die Weite des kleinen Tibet. "Ich entdecke jetzt die Heimat meiner Großmutter neu." Dipaolo räumt ein, dass das Leben hier anstrengend sein kann. Straßen voller Kurven führen hinauf und hinunter, die Orientierung ist für Ortsunkundige schwierig. Im Winter sind die Fahrbahnen oft eisig, abends kreuzen Wildschweine, und die Fahrer müssen auf der Hut sein.

Abruzzo ist wie die Toskana vor 40 Jahren, meint Susanna Salvati. Voller Schönheit und Möglichkeiten. Sie möchte gern, dass die Leute sich die Vorzüge der Region langsam, am besten zu Fuß erschließen. Eine App, die sie mitentwickelt, soll als virtueller Wanderbegleiter dienen. Dann hört man die Geschichte des Ortes, die Stimmen auf dem Marktplatz, die Tiere. Viel Verkehrslärm wird nicht stören.

Weitere Infos unter www.rifugiodellarocca.it; www.sextantio.it; www.abruzzoturismo.it

© SZ vom 11.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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