Zukunft Europas:Die EU muss sich neu gründen

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Leidenschaft für Europa: Auf einer Pulse of Europe-Demonstration in München (Foto: Florian Peljak)

Frankreichs Präsident Macron kämpft für die Union, Merkel zaudert. Dabei wäre jetzt die Gelegenheit günstig für einen radikalen neuen Anfang - mit Volksentscheiden in allen EU-Staaten.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Von Joschka Fischer stammt der Ruf nach dem ganz großen Wurf. Als der alt-grüne Ex-Straßenkämpfer noch deutscher Außenminister war, entschloss er sich eines Tages, Israelis und Palästinensern die Leviten zu lesen. Fischer hatte mal wieder mit beiden Seiten über Wege zum Frieden gesprochen. Und er musste mal wieder erkennen, dass alle Mühen umsonst waren. Also nutzte er einen Auftritt an der Universität Haifa, um etwas Unmögliches zu verlangen. Fischer rief sie dazu auf, endlich "das Undenkbare zu machen".

Der Außenminister war durchdrungen von Sorge und Hoffnung. Er wollte nichts zerstören, sondern allen helfen. Er wollte, dass die beiden Völker rauskommen aus den Schmerzen und Verklebungen der vergangenen Jahrzehnte. Er wollte, dass sie machen, was aus seiner Sicht unverzichtbar ist für eine friedliche Zukunft.

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, der vom Straßenkämpfer Fischer nichts, aber von Fischers politischer Leidenschaft sehr viel hat, versucht derzeit dasselbe: Er kämpft darum, in einem verklebten, zerstrittenen, die großen Gefahren ignorierenden Europa das Undenkbare anzustoßen.

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Macron will das liberale und demokratische, das weltoffene und ziemlich soziale Europa wachrütteln. Man kann sogar sagen: Er will es wachküssen. Dabei möchte der Franzose keineswegs alles umstürzen. Er will zurück zu den Wurzeln. Jenen Wurzeln, die zur Gründung der EU geführt haben.

Der Franzose ist damit nach Helmut Kohl der erste Europäer, der derart leidenschaftlich für ein starkes und geeintes Europa eintritt. Und seine Begründung ist so einfach wie schmerzhaft: Macron geht es um nichts weniger als um die Rettung vor dem Tod Europas.

"Wir haben vergessen, Europa zu verteidigen!"

Bei einer Rede vor gut einem halben Jahr an der Pariser Sorbonne hat Macron seine Motive ausgebreitet. Und er hat Europas Gegner benannt, gemeint sind Nationalisten, Autokraten und Demokratiefeinde. Diese seien drauf und dran, den Sieg davon zu tragen, warnt der Franzose. Einen Sieg über jenes liberale und solidarische Europa, das seine Gründer als Reaktion auf die Verheerungen zweier Weltkriege entworfen hatten.

Aus Sicht Macrons ist die EU in diese Lage geraten, "weil wir aus Unachtsamkeit, Schwäche oder Blindheit die Voraussetzungen für ihren Sieg geschaffen haben". Macrons Schlussfolgerung wird zur Selbstanklage: "Wir haben vergessen, Europa zu verteidigen!"

Die Rhetorik des Franzosen muss einem nicht gefallen; man muss nicht jede hochfliegende Formulierung gut finden. Trotzdem ist Macrons Warnung von historischer Bedeutung. Sie kommt nicht aus dem Nichts; sie kommt zu einem Zeitpunkt, an dem alles wackelt und kaum mehr ewas sicher ist in Europa.

Donald Trumps unberechenbar gewordenes Amerika, Wladimir Putins nach Selbstbewusstsein lechzendes Russland, Recep Tayyip Erdogans wütend-größenwahnsinnige Türkei, dazu Chinas radikaler Machtanspruch in Wirtschaftsfragen - man muss blind sein, um nicht zu sehen, dass nur ein stabiles, solidarisches, sich verteidigendes Europa in der Lage wäre, sich gegen diese Herausforderungen zu behaupten.

Das gleiche gilt beim Blick nach innen. Da gibt es die bewusste Beschneidung demokratischer Rechte in Polen, Ungarn und anderen EU-Staaten; es gibt die aggressiven Attacken auf Minderheiten und liberale Werte durch rechtskonservative Parteien in Österreich, Frankreich, den Niederlanden. Und es gibt starke linke Protestparteien in Spanien, Italien und Griechenland, die die Gerechtigkeitsfrage neu stellen und dabei zu einem erheblichen Teil auf nationale Heilsversprechen setzen statt auf die EU-Gemeinschaft. Das sind keine Petitessen, sondern Angriffe auf das Selbstverständnis. Wenn sie kein Ende finden, untergraben sie die Grundlage der Gemeinschaft.

Wenn der französische Präsident an diesem Donnerstag nach Berlin kommt, liegt also alles auf dem Tisch. Seine Ziele, seine Leidenschaft, sein Wille zu kämpfen. Und Deutschland? Die Kanzlerin? Ihre Koalition? Ihre Parteienfamilien?

Sie alle geben zur Zeit - gelinde gesagt - ein miserables Bild ab. Bis heute hat Macron keine verlässliche Antwort erhalten. Bis heute hat es die alte und neue deutsche Kanzlerin nicht geschafft, ihre eigenen Ziele geschweige denn eine Leidenschaft für ebensolche Ziele erkennen lassen. Bis heute lässt sie sich treiben, statt sich, die eigenen Leute und die EU anzutreiben. Merkels Zaudern und Abwarten ist mit Blick auf Europa auf eine Bankrotterklärung.

Schlimmer noch: In der Debatte über Macrons Vorschläge hat die Kanzlerin es zugelassen, dass ihre Koalition und ihre Unionsparteien nach wenigen Grundfreundlichkeiten vor allem über Unverträglichkeiten sprechen. Während der Franzose das Liberale, das Demokratische, das Solidarische der EU ins Zentrum rücken möchte, spricht man in Berlin über Probleme, Schwierigkeiten, rote Linien.

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Man spricht nicht über das, was geht; man redet über alles, was nicht gehen darf. Und verdeckt, ignoriert, vergisst bewusst, dass Macron von Anfang an über viel mehr geredet hat. Über Dinge nämlich, die gar nicht umstritten sein dürften.

Dazu zählt eine echte militärische Zusammenarbeit bis hin zu einer gemeinsamen strategischen Ausrichtung von Sicherheit; eine echte Verzahnung der Arbeit der Nachrichtendienste im Kampf gegen den Terror (Macron denkt an eine gemeinsame Ausbildungsakademie); einen wirklich umfassenden und gemeinsamen Einsatz für einen europäischen Grenzschutz.

Und ja, schließlich auch die kluge Idee, bei der Flüchtlingsverteilung den Gemeinden besonders zu helfen, die Flüchtlinge aufnehmen. Ein Vorstoß, der die vergiftete Asyldebatte weg führen würde von Zwang, Druck und mangelnder Solidarität - hin zu vernünftigen Anreizen.

Deutsche Krämerseele trifft Großkrisen

Und was kommt aus Berlin? Bislang nichts, was wirklich Substanz ausweisen könnte. Selten hat ein französischer Präsident durch eigenes Werben und Handeln die Schwächen und Unzulänglichkeiten einer deutschen Regierung so offen gelegt wie Macron. Er spricht über die Rettung Europas; die Kanzlerin und ihre Union sprechen darüber, ob sie ein bisschen mehr Geld zu geben bereit sind.

Die deutsche Krämerseele trifft auf die Großkrisen dieser Zeit - deutlicher kann sich nicht zeigen, wie inadäquat die Bundesregierung handelt. Inadäquat ist es, derart abwartend und nichtssagend aufzutreten. Inadäquat ist es, sich den Spielraum von den Dobrindts dieser Welt zerstören zu lassen, statt längst mit eigenen Ideen für das neue Europa zu werben. Vollkommen inadäquat ist es also, einen französischen Präsidenten ins Leere laufen zu lassen, der politisch Kopf und Kragen riskiert, um Europa neuen Mut und neue positive Energie zu verpassen.

Dieses Kleinklein erinnert nicht an Helmut Kohl, den Kanzler des Euro und der Deutschen Einheit. Es erinnert an die vielen kleinen und fiesen Manöver der Europa-Kritiker in Warschau und Budapest.

Berlins bisherige Haltung fördert exakt jene Egoismen, die es seit Jahren zu bekämpfen vorgibt. Es spielt damit jenen Anti-Brüssel- und Anti-Europa-Politikern in die Hände, die in Polen, Ungarn, Tschechien und anderen osteuropäischen Mitgliedstaaten zurzeit viel Macht haben. Merkel agiert, wie es die Regierungschefs von Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei auch tun: Was einfach geht, nimmt man gerne; was Anstrengung verspricht, lässt man bleiben.

So wird Europa nicht gerettet; so wird es nicht zu einem anerkannten, respektierten, auch einflussreichen Spieler auf der Weltbühne. So schrumpft es und verliert an Kraft und Bedeutung.

Aus diesem Grund braucht die EU einen Schritt, den viele in Europa bislang für unmöglich halten. Die EU braucht einen Akt der Neugründung und Neubegründung. Sie braucht einen Akt, mit dem sich alle, die es wollen, umfassend zu ihr bekennen.

In der Vergangenheit hätte das eine aufgewertete Europawahl sein können. Eine Wahl also, in der alle demokratischen Kräfte offen und leidenschaftlich für die Stärkung einer mutigen, weltoffenen, solidarischen Europäischen Union kämpfen.

Die Erfahrung aus zahlreichen Europawahlen aber zeigt, dass für die Wähler bei der Abgabe für diese oder jene Partei am Ende die EU selten eine große Rolle gespielt hat. Auch wenn durch die Benennung echter Spitzenkandidaten zuletzt etwas mehr Energie erzeugt wurde - die Wahlstimmen wurden trotzdem zu oft aus EU-fernen Motiven vergeben. Die Folge: So gut wie nie konnte man aus Stimmen für diese oder jene Partei ein Bekenntnis zur EU ablesen.

Deshalb stellt sich die Frage: Wie lässt sich eine Situation schaffen, in der alle EU-Staaten noch einmal die Frage klären, ob sie wirklich und mit allen Konsequenzen zu einer künftigen EU gehören möchten?

Diese Frage, man kann es drehen oder wenden, wie man will, lässt sich nur durch Referenden lösen. Nur mit einer Volksabstimmung über ein Ja oder Nein kann jede Bevölkerung noch einmal für sich entscheiden, ob sie dabei bleiben möchte. Nur dann geht es nicht um den Willen einer Regierung, einer Partei, eines Politikers, sondern um die Zukunft aller.

Es geht nicht um einen Rauswurf, es geht um das positive Bekenntnis

Nur mit einem solchen Ja oder Nein lässt sich vermeiden, dass Nebeneffekte eine Rolle spielen. Selbst Wähler, die gerne Protest wählen, können in so einem Fall nicht mehr ausweichen. Sie können nur Ja oder Nein sagen.

Und: Die Menschen selbst entscheiden, die Bevölkerungen. Da gibt es wenig Manövriermöglichkeiten für Parteien oder Regierungen. Auch sie können nur ja oder nein sagen, auch sie können nicht mäkeln, kritisieren, Forderungen stellen, sondern müssen sich entscheiden. Es geht also nicht um einen Rauswurf, es geht um das positive Bekenntnis - und wer das nicht will, hat es selber entschieden.

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Und der Brexit? Das Abschiedsvotum der Briten, das die EU in ihre bislang wohl größte Krise gestürzt hat? Spricht das nicht eindeutig gegen einen solchen Schritt? Wer sich die Analysen nach der Entscheidung ansieht, wer sich an die falschen Versprechen erinnert und die Mühsal der Briten studiert, sich jetzt mit den Realitäten anzufreunden, der kann exakt zur gegenteiligen Bewertung kommen. Zu der Bewertung nämlich, dass der Brexit ziemlich vielen Menschen den Wert der EU neu vor Augen geführt hat.

Seit der Brexit-Entscheidung kann jeder Ungar, jeder Pole, können überhaupt alle Menschen in den EU-Staaten sehr genau studieren, was es bedeutet, die Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen. Eine umfassende Umfrage des Pew-Instituts aus dem Sommer 2017 zeigt, dass das Konsequenzen hatte - und zwar ermutigende.

Seit dem Votum der Briten im Sommer 2016 ist die Zustimmung zur EU selbst in Staaten wie Ungarn und Polen wieder deutlich gewachsen. Glaubt man der Pew-Umfrage, dann schauen heute in Deutschland, Frankreich und Spanien genauso wie in Ungarn, Polen und sogar den Niederlanden deutlich mehr als die Hälfte der Menschen positiv auf die Gemeinschaft.

Was wäre die Grundlage für eine neue EU?

Noch gravierender ist ein zweites Ergebnis: Bei allen Staaten sind nur kleine Minderheiten für einen Austritt, aber deutliche Mehrheiten plädieren dafür, das Volk darüber abstimmen zu lassen. Das gilt für Länder wie Griechenland und Italien genauso wie für Spanien, Deutschland oder Polen. Das bedeutet: Wer Mut hat zu kämpfen, wer leidenschaftlich für die EU eintreten möchte, wer sich der Debatte stellt und ein neues Bekenntnis zur Gemeinschaft anstrebt, hat keineswegs schlechte Karten.

Bleibt noch eine Frage: Was soll die Grundlage dieser EU sein? Was ist der Rahmen für eine Mitgliedschaft? Was die Basis für die Abstimmung?

Auch darauf gibt es eine Antwort. Die EU verabschiedete 2000 ihre Grundrechte-Charta. Selten zitiert und wenig bekannt, wäre dieses Dokument gleichwohl eine ausgezeichnete Grundlage für eine Abstimmung.

Und das aus zwei Gründen: Sie definiert humanitäre, demokratische und soziale Grundüberzeugungen der Gemeinschaft. Um nichts anderes geht es, wenn die Frage steht, wer dieses Europa in der Welt von morgen sein möchte. Was soll es antreiben? Wie soll Solidarität aussehen? Was will es sein und bleiben?

Hinzu kommt: Als die Charta im Jahr 2000 verabschiedet wurde, waren viele Staaten noch gar nicht beigetreten. Das gilt insbesondere für die Staaten des früheren Ostblocks. Als sie schließlich 2004 dazu kamen, war die Charta mit im Gepäck, hat aber bei der Entscheidung zum Beitritt keine allzu große Rolle gespielt. Was also könnte besser sein, als sich darüber noch einmal selbst zu vergewissern?

Es steht außer Frage: Emmanuel Macron kann mit all seinen Ideen scheitern. Aber er wird bis zur endgültigen Entscheidung über Europas Zukunft nicht aufgeben. Angesichts dessen wäre es nachgerade unverantwortlich, sollte die große Koalition in Berlin ihn dabei tatsächlich im Stich lassen. Eine Koalition, die ihren Koalitionsvertrag mit schönsten Worten über die Bedeutung Europas für Deutschland begonnen hatte. Schon wieder vorbei alles?

Am Dienstag im EU-Parlament hat Macron auf die Vorgeschichte des ersten Weltkriegs Bezug genommen. In Anlehnung an einen Buchtitel des Historikers Christopher Clarke beschwor er alle Europäer, die Aufgabe endlich anzunehmen. "Ich will nicht zur Generation der Schlafwandler gehören." Clarke war in seinem Buch über die Ursachen des ersten Weltkriegs zu dem Schluss gekommen, das alle wichtigen Führer Europas in den Monaten vor Ausbruch des Krieges die aufziehenden Gefahren nicht erkannt haben.

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