Zeitgeschichte:Die trostlose Einöde der Unfreiheit

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Inga Markovits hat untersucht, wie Juristen in Ost-Berlin handelten. Es geht auch um den umstrittenen Begriff "Unrechtsstaat".

Rezension von Rolf Lamprecht

Unrechtsstaat." Ein Reizwort, das nach wie vor die Gemüter erregt. Mit dem Verdikt hätten "westdeutsche Sprecher 40 Jahre DDR-Geschichte in einen totalitären Topf" geworfen, resümiert Inga Markovits. Ihr Fazit: Der Begriff "behauptet mehr, als er beweisen kann" - und er "dient nicht der Verständigung, sondern stärkt nur das Selbstgefühl des Sprechers".

Die deutsch-amerikanische Wissenschaftlerin registriert eine "Selbstgefälligkeit der Sieger, die schon immer Recht gehabt haben wollen" und sie nimmt "die Verletzlichkeit der Verlierer" wahr, "die die Authentizität ihres eigenen Lebens verteidigen". Zuspitzungen dieser Art, die längst vergessen schienen, brechen aus heiterem Himmel immer wieder auf, etwa wenn sich die "beiden feindlichen Brüder" als solche zu erkennen geben und versuchen, durch alte Klischees "die Gegenseite zu irritieren und zu delegitimieren".

Die Chronistin, gebürtige Deutsche, promovierte Absolventin der Berliner FU, heute Rechtsprofessorin an der Uni von Austin (Texas), lässt die Fäden zur alten Heimat nicht abreißen. Das Recht der DDR ist ihr Forschungsthema, "als Labor" für ihre Studien hat sie das damalige Zentrum der Jurisprudenz auserwählt, die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität (HUB). Ihr stand ein Konvolut von Untersuchungen, Protokollen und Dossiers zur Verfügung, "fast so etwas wie ein Tagebuch des Partei- und Regierungsalltags in der DDR" - ein Wechselbad von Lockerungen und Verschärfungen. Dem Betrachter fallen die Schlagworte "Zuckerbrot und Peitsche" ein. Nicht polemisch, dafür aber umso hartnäckiger geht Inga Markovits der Frage nach, wo die DDR auf der Skala der Staatstheorien einzuordnen ist. Ohne Zorn und Eifer entdeckt sie Unterdrückung und Parteilichkeit, aber auch Normalität.

In dieser Vielschichtigkeit liegt der Reiz des Buches, das den Leser - von Kapitel zu Kapitel mehr - animiert, über den Unterschied von Rechtsstaat und Unrechtsstaat nachzudenken, vor allem aber zu begreifen, dass Juristen, die (nach einer inzwischen geläufigen Metapher) "den Dolch unter der Robe" trugen, keine der beiden Kategorien repräsentieren.

Die Autorin interessiert, ob und wie sich die DDR-Juristen dem Druck von oben unterworfen haben. Sie sucht die Antwort in einem schnellen Wechsel der Perspektiven, ausgehend von der realistischen Annahme, dass es "den" DDR-Juristen nie gab, sondern dass sich die Führungsriege der SED, vereinfacht gesehen, auf mindestens drei unterschiedliche Gruppierungen einstellen musste - auf ihre treuen Parteigänger, auf die reservierten Skeptiker und schließlich auf die zunehmend überzeugten Gegner. Wie haben sie jeweils die DDR erlebt? Die Autorin setzt sich (in übertragenem Sinn) verschiedene Brillen auf und blickt aus drei Richtungen (die Hauptkapitel) auf ihre Sprösslinge. "Manchmal benutze ich dasselbe Ereignis als Material für zwei Geschichten."

Die Autorin schreibt, den Juristen an der Fakultät stand "ihr Beruf näher als die Partei"

Mancher hält die Zustände für normal und nimmt sie als selbstverständlich hin. Mancher ballt die Hände in der Hosentasche. Markovits beschreibt die trostlose Einöde der Unfreiheit, die ein sogenannter "Informationsmechanismus" penibel fest-hielt. "Ohne diese Papierberge" hätte sie, sinniert die Autorin, "dieses Buch nicht schreiben können". Die Rede ist von ausgeklügelten Überwachungsmethoden. Al-les, was an der Uni geschah, war wechselseitig miteinander verbunden. "Die Berichterstattung arbeitete in zwei Richtungen: von oben nach unten und von unten nach oben."

Das einstige Stasi-Gefängnis (heute Gedenkstätte) in Bautzen funktionierte nicht nach Rechtsstaatsprinzipien. Für alle Felder der Jusitz gilt dies nach Meinung von Inga Markovitz aber nicht unbedingt. (Foto: dpa)

Von oben nach unten hieß: dass Parteibeschlüsse die Richtung vorgaben. Die verbindliche Anweisung. "Alle Genossen des Lehrkörpers nutzen die Gelegenheit des Unterrichts, um die Konsequenzen der Beschlüsse der Partei zu erläutern." Von unten nach oben verriet, "was vor Ort tatsächlich los war". Verlangt wurden Berichte "über die Stimmungen, Meinungen und Diskussionen zu politisch bedeutsamen Ereignissen", etwa wie Studenten auf die Ausweisung von Wolf Biermann reagierten.

Was in der DDR geschah, sah - abhängig von der eigenen Position - höchst ver-schieden aus. Etwa, ob einer ganz linientreu den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 einen "faschistischen Putsch" nannte, der von "westdeutschen Kriegstreibern" ange-zettelt war. Die Bindung der Juristen an den Staat ließ sich an Zahlen ablesen. 1948, zur Zeit der Währungsreform, als man mit der S-Bahn von Ost nach West fahren konnte, gab es einen Exodus von Professoren. In den Jahren vor dem Mauerbau folgte ein weiterer Kahlschlag. Im letzten DDR-Jahrzehnt wurden die Jura-Professoren offenbar erfolgreich domestiziert: Ausreiseanträge kamen "so gut wie nie vor".

Stalins Tod 1953 wirkte befreiend. Doch die SED fürchtete, "ihr werde mit dem Tauwetter auch die Kontrolle über die Universitäten aus der Hand gleiten". Sie zog nach und nach die Zügel an. 1957/58 werden "der Philosoph Wolfgang Harich, der einen demokratischen Weg zum Sozialismus suchte", und zwei seiner Kollegen "wegen staatsfeindlicher Gruppenbildung" zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Wer Kritik übte, lief Gefahr, wegen "Boykotthetze" verurteilt zu werden, auf sogenannte "Republikflüchtige" warteten, je nach SED-Beschlusslage, barbarische Strafen.

Inga Markovits: Diener zweier Herren. DDR-Juristen zwischen Recht und Macht. Ch.-Links-Verlag, Berlin 2020. 240 Seiten, 20 Euro. E-Book: 12,99 Euro. (Foto: N/A)

Angesichts solcher Bedrohungen wurde "politische Vorsicht zum Reflex". Die Autorin findet dafür ein treffendes Bild: "Wie Fußgänger sehen sie nach beiden Seiten, bevor sie im Getümmel des Verkehrs eine belebte Straße überqueren." Ergo: Sie riskierten nichts, sie fragten "lieber oben an".

Inga Markovits blickt zurück auf "43 Lebensjahre der Fakultät", die sie erforscht hat. Ihre Erkenntnis: Den Juristen stand "ihr Beruf näher als die Partei". Sie ver-sucht, die Begriffe zu entwirren. Rechtsstaat meine einen Staat, in dem nicht nur der Bürger dem Recht unterworfen ist, sondern in dem sich auch die drei Gewalten fügen müssten. Im Unrechtsstaat sieht sie "ein Schimpfwort, das den so gescholtenen Staat beschuldigt, Recht und Gerechtigkeit mit Füßen zu treten".

Binsenweisheit: Auch in einem Rechtsstaat gibt es Unrecht. Und natürlich kann es in einem Nicht-Rechtsstaat Gerechtigkeit geben. Mord von Amts wegen haben beide nicht auf ihrer Agenda. Der skrupellose Staat mit den "furchtbaren Juristen" war unvergleichbar. Wer die Aktionen der Mordlust Revue passieren lässt, wird - so die Autorin - "Drittes Reich und DDR nicht mehr in einem Atemzug" nennen.

Ihr Verdienst ist, dass sie Assoziations-ketten in Gang setzt, die den Leser zum Nachdenken zwingen. Sie schreibt zwar nicht über das Recht der Bundesrepublik, weil sie das nicht untersucht hat. Doch ihre Figur des "selbstgefälligen Siegers" steht unausgesprochen im Raum; eine Figur, deren anklagender Finger auf die anderen zeigt, während drei auf sie zurück weisen. Und damit auch auf die Vergleichsgröße, auf die unbestreitbar ideologieanfällige westdeutsche Justiz, die Kommunisten gnadenlos verfolgte, die 1949 dort ansetzte, wo 1945 der SS-Staat aufgehört hatte; häufig mit denselben Personen, wie eine Untersuchung des Justizministeriums ("Akte Rosenburg") dokumentiert.

Rolf Lamprecht berichtet seit 1968 von den Obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe.

© SZ vom 27.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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