Nationalsozialismus:Hitlers "Volksgemeinschaft": Dazugehören und ausgrenzen

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Pranger nach Nazi-Art: Frauen werden in der Öffentlichkeit die Haare abgeschnitten und damit aus der "Volksgemeinschaft" ausgestoßen. (Foto: SZ-Photo/Scherl)
  • Michael Wildt analysiert, wie im NS-Staat die Formel von der "Volksgemeinschaft" funktionierte.
  • Sie hatte viel mit dem Thema Arbeit zu tun - ob es sie wirklich gab, ist eine andere Frage.

Rezension von Isabell Trommer

Als der Krieg zu Ende war, kam bald die Frage auf, wer nach Deutschland zurückkommen würde. Um manche Exilanten bemühte man sich. Für viele kam eine Rückkehr nicht infrage. Sie trauten den Deutschen nicht, oder das Provisorium war zum Leben geworden.

Andere wogen ab, besuchten die einstige Heimat oder zogen in die Schweiz. Einige kamen zurück und blieben. Als der Sozialdemokrat Otto Suhr den Juristen und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel 1946 bittet, nach Deutschland zurückzukehren, lehnt dieser ab: "Es wäre mir völlig unmöglich, die Unbefangenheit aufzubringen, die notwendig ist, um in jenem Lande zu leben und zu wirken." Fünf Jahre später landet er dennoch in West-Berlin.

Ernst Fraenkel, der aus Frankfurt stammte und später in die USA emigriert war, wird 1953 Professor an der Freien Universität Berlin. Sein politisches Denken war an einer pluralistischen und repräsentativen Demokratie orientiert, plebiszitäre Elemente bezog er ein, die Unmittelbarkeit des Volkes wollte er allerdings einhegen. Der Berliner Historiker Michael Wildt spricht von einer "Furcht vor dem Volk".

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Ernst Fraenkel, dessen Geschichte er erzählt, ist einer der Protagonisten in seinem Buch "Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte". Darin versammelt Wildt Aufsätze aus den letzten zwanzig Jahren, auch einige Originaltexte sind darunter. Der Band besteht aus fünf Teilen: "Volksgemeinschaft", "Antisemitismus als Alltagspraxis", "Arbeit und Lager", "Politische Theorie des Nationalsozialismus" und "Nach 1945".

Es geht also sowohl um den Nationalsozialismus als auch um seine Geschichtsschreibung, wobei Wildt das Augenmerk hauptsächlich auf die Gesellschaft richtet. In der Auseinandersetzung mit der NS-Herrschaft spielte sie lange Zeit eine geringe Rolle.

Erst in den Siebziger- und Achtzigerjahren begann sich das zu ändern, als sozial- und alltagsgeschichtliche Perspektiven in der NS-Forschung Platz griffen. Nicht nur die Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik, nicht nur Hitler, die Führungselite, der Staat oder die Strukturen, sondern auch die Gesellschaft und ihre Akteure wurden vermehrt zum Gegenstand der Forschung.

Hier: die NS-Elite, da: die Bevölkerung. Diese Gegenüberstellung löste sich nach und nach auf. Verstärkt nach der Jahrtausendwende, die Arbeiten Michael Wildts trugen dazu bei, rückte auch das gesellschaftspolitische Ideal der Nationalsozialisten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: die "Volksgemeinschaft".

Das war kein neuer Begriff. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts diente die Gemeinschaft als Gegenbild zur Gesellschaft und ihren sozialen und konfessionellen Konfliktlinien; die Rede von der "Volksgemeinschaft" gehörte zum Inventar der Modernekritik. In der Weimarer Republik habe fast jede Partei den Begriff verwendet, aber, so Wildt, auf ihre je eigene Weise.

Unter der NS-Herrschaft wurde die "Volksgemeinschaft" aller Deutschen als Ziel ausgegeben. Gewalttätigkeit und Antisemitismus, der Ausschluss "Gemeinschaftsfremder" kennzeichneten die nationalsozialistische Vergemeinschaftung.

Den Blick auf die "Volksgemeinschaft" zu richten, bedeute nicht, dass es sie gegeben hat. Es habe sich um eine Verheißung gehandelt. Wildt sieht in ihr einen Schlüsselbegriff einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Das Politische sei, das steht im Zentrum seines Buches, nicht allein im Staat zu suchen.

Der Historiker analysiert die "Volksgemeinschaft" als soziale Praxis, die Teilhabe, die Mechanismen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung und damit die gesellschaftlichen Transformationen. Diese Spur verfolgt er anhand von Studien über die alltägliche Gewalt gegen Juden in der Provinz.

Die von den Nationalsozialisten angestrebte "Volksgemeinschaft" habe sich in Boykottaktionen hergestellt oder in Momenten wie diesem: Im August 1933 trieben SA-Männer einen Mann durch Marburg, während Bewohner, mit welchen Absichten und Einstellungen auch immer, zuschauten, die Aktion billigten oder mitmachten; die Rechtsordnung habe hier für Jüdinnen und Juden keine Geltung mehr gehabt.

Auch die Einsatzgruppen der SS ließen sich, um ein anderes Beispiel zu geben, nicht als rein staatliche Institutionen verstehen. Wildt befasst sich daneben mit der Situation derer, die von der Ausgrenzung betroffen waren, etwa anhand der Tagebücher von Victor Klemperer, einem anderen Protagonisten dieses Buches, der den Ausschluss von Juden aus dem gesellschaftlichen Leben beschreibt.

Das Fazit der Aufsatzsammlung: Es sei an der Zeit, sich vom Volksbegriff zu verabschieden

Zentral für die Integrationsformel von der "Volksgemeinschaft" sei die Arbeit gewesen: Nur wer arbeitsfähig war, hatte einen Wert, Arbeit bedeutete "Dienst an der Volksgemeinschaft". So heißt es in einer von Hitler 1934 unterschriebenen Verordnung: "Das Ziel der Deutschen Arbeitsfront ist die Bildung einer wirklichen Volks- und Leistungsgemeinschaft aller Deutschen."

Zugleich sei Arbeit Teil der Verfolgungspraxis der Nationalsozialisten gewesen, wie Wildt etwa anhand der Zwangsarbeit deutlich macht, die Jüdinnen und Juden verrichten mussten.

Die Historiografie des Nationalsozialismus war und ist durch vielfältige Kontroversen um Ansätze und Deutungen geprägt. In diesen Auseinandersetzungen wurden Überlegungen auf die Probe gestellt, weitergedacht oder vertieft und Perspektiven eröffnet. Ein neuer Forschungsansatz zieht selten leise ein.

Auch gegen den "Volksgemeinschaft"-Ansatz sind berechtigte Einwände vorgebracht worden: Ein Propagandabegriff tauge nicht als analytisches Konzept, eine differenzierte Sicht auf die Gesellschaft werde so verstellt. Und doch hat sich der Ansatz als fruchtbar erwiesen, weil er das Verständnis von der Gesellschaft im Nationalsozialismus erweitert hat. Das führt dieses Buch eindrucksvoll vor.

Im letzten Teil ragt ein Text heraus, der Kontroversen und Entwicklungen der NS-Geschichtsschreibung anhand zweier Protagonisten anschaulich macht, die in der Erforschung des Holocaust unterschiedliche Wege beschritten: Raul Hilberg und Saul Friedländer.

Michael Wildt: Die Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte. Suhrkamp, Berlin 2019, 423 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Mit seinen Eltern flieht Hilberg 1939 aus Wien in die Vereinigten Staaten. Angeregt durch die Arbeiten der in New York lehrenden Emigranten Hans Rosenberg und Franz Neumann (der mit Ernst Fraenkel in Frankfurt studiert hatte), habe er den Mechanismus der Vernichtungsmaschine aufdecken wollen.

Seine strukturalistische Analyse zeige, dass Initiativen auf allen Ebenen notwendig waren und die Vernichtung einem bürokratischen Ablauf folgte. Die Dokumente der Täter bildeten Hilbergs Quellengrundlage. Im Jahr 1961 veröffentlicht er in den Vereinigten Staaten seine Dissertation "Die Vernichtung der europäischen Juden". Erst Anfang der Achtziger erscheint das Werk auf Deutsch. Es war nicht das erste Buch über die Judenvernichtung und doch eine Pionierstudie.

Saul Friedländer, in Prag geboren, überlebte den Holocaust in einem katholischen Internat in Frankreich, seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet. In den späten Neunzigerjahren erscheint der erste Band seiner Studie "Das Dritte Reich und die Juden". Friedländer habe mit seiner "integrierten Geschichte" einen Ansatz geprägt, der im Unterschied zu Hilberg die "Stimmen der Verfolgten" und ihre Erinnerungsberichte einbeziehe, sich also nicht vor allem auf die Perspektive der Täter stützte.

Ein Anstoß für Friedländers Studie war die Auseinandersetzung, die er mit dem Historiker Martin Broszat über die Historisierung des Nationalsozialismus geführt hatte. Mit Fraenkel und Hilberg verbindet ihn nicht nur die Erfahrung als Verfolgte, sondern dass er gegen die Zeitläufte geforscht hat.

Ein kluges und bemerkenswertes Buch

Zuletzt: Was meint "Ambivalenz des Volkes" eigentlich? Wildt fasst darunter das Spannungsverhältnis, das im Volksbegriff liege, zwischen "totalisierender Universalität" und "individueller Staatsbürgerschaft". Der Volkswille richte sich nicht zwingend auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, deshalb sei die Macht des Volkes im Grundgesetz durch rechtsstaatliche Regeln begrenzt.

Dabei erinnert Wildt, der an der Humboldt-Universität Berlin lehrt, an eine andere Spannung im Volksbegriff: Er könne im Sinne von ethnos, einer Abstammungsgemeinschaft, oder von demos, einer Rechtsgenossenschaft, verwendet werden. So schlägt der Autor den Bogen in die Gegenwart: Es sei an der Zeit, den Volksbegriff zu verabschieden und damit auch die Frage, wer eigentlich dazugehöre und wer nicht.

"Die Ambivalenz des Volkes" ist ein kluges und bemerkenswertes Buch über Geschichtsschreibung, das nicht nur eine Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus skizziert, sondern auch den Lebensverläufen Rechnung trägt, die von dieser Geschichte bestimmt waren.

Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin.

© SZ vom 16.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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