Die Stimmung ist gereizt am Nachmittag des 16. Juni 2018 in Wuppertal. Es ist kurz nach 15 Uhr, als der Polizist im blauen Einsatzanzug den Demonstranten von der Straße Höhne im Stadtteil Barmen drängt. Ein bisher unveröffentlichtes Video, das die Süddeutsche Zeitung auswerten konnte, hat jenen Moment dokumentiert, der seither Wuppertal erregt.
Der Mann geht langsam zum Bürgersteig. Der 60-Jährige schimpft, wischt mit der Hand kurz hinter seinen Rücken, nachdem der Beamte ihn von hinten angetippt hat. "Ich lass mich nicht schubsen", will Thomas Lenz gerufen haben. Lenz und der Ordnungshüter kommen sich nun näher, körperlich jedenfalls. Kaum 20 Zentimeter trennen ihre Köpfe. Der Bürger meckert, der Polizist hebt den Zeigefinger - und packt plötzlich zu: Mit dem Arm nimmt er den Kopf des Demonstranten in den Schwitzkasten, ringt den Mann zu Boden, nach fünf Sekunden hocken drei Polizisten auf ihm. Lenz wehrt sich nicht ("Ich habe toten Hund gespielt"), seine Hände werden mit einem Plastikband gefesselt. Dann zeigt das Video, wie plötzlich eine Hand dem Bürger unters T-Shirt fährt, ihm nahe der Leber an den Bauch greift. Ein Arzt wird Thomas Lenz, immerhin der Leiter des städtischen Job-Centers und also lokale Prominenz, später ein faustgroßes Hämatom attestieren.
An diesem Donnerstag wird der Fall den Düsseldorfer Landtag beschäftigen. Im Innenausschuss will die SPD-Opposition von CDU-Innenminister Herbert Reul wissen, ob der harte Zugriff vom 16. Juni in Wuppertal einen Trend setzt - für eine härtere Gangart der NRW-Polizei: "Ist das die neue Robustheit?", fragte Andreas Bialas, SPD-Abgeordneter aus Wuppertal, bereits eine halbe Stunde nach dem Vorfall über Facebook. Bialas bezog sich damit auch auf eine von Reul geplante Verschärfung des NRW-Polizeigesetzes. Zu seinem Post stellte der Sozialdemokrat ein anderes, kürzeres Video ins Netz, das die Festnahme von Thomas Lenz ebenfalls eingefangen hatte. Bialas, selbst gelernter Polizist, wurde deshalb im Internet angefeindet. Ein FDP-Abgeordneter warf dem Sozialdemokraten "Hetzemachen" vor. Wuppertals Polizeipräsident Markus Röhrl spricht bis heute von "einem gelungenen Einsatz".
Das neue Video stellt die bisherige Darstellung der Polizei jedoch teilweise infrage. Denn anders als das erste Video zeigt es auch, was vor dem Zugriff der Ordnungshüter geschah. Gegen den Demonstranten Lenz, der an jenem Tag gegen einen Aufmarsch von Neonazis und der Partei "Die Rechte" protestierte, wurde unter anderem wegen eines "tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte" ein Strafverfahren eingeleitet. Nur, auf dem Video ist von einem solchen Angriff nichts zu erkennen. Auch die Behauptung der Polizei, Lenz habe sich auf dem Asphalt liegend gegen seine "Fixierung aktiv gesperrt", belegt das Filmmaterial nicht. Kategorisch bestreitet Lenz zudem, dass er zuvor an einer Sitzblockade teilgenommen habe. Das hatte Polizeipräsident Röhrl noch zwei Tage nach dem Vorfall in einem Interview behauptet.
In seinem neunseitigen Bericht für den Landtag übernimmt NRW-Innenminister Reul dennoch weitgehend die Darstellung seiner Beamten. "Auf Basis der jetzigen Erkenntnisse", so schreibt Reul, sei die Polizei "mit angemessener Einschreitschwelle vorgegangen". Der Kritiker Bialas hingegen nennt den Einsatz "völlig unverhältnismäßig". Bialas befürchtet, die CDU/FDP-Koalition wolle mit der Polizeistrategie im Land brechen: "Die NRW-Polizei war bisher bundesweit für kluge Deeskalation bekannt. Steht Herr Reul noch dazu?"
Bereits im Vorfeld der Anti-Rechts-Demo hatte ein Schreiben des Wuppertaler Polizeipräsidiums Ärger provoziert. Am 4. Juni hatte die Behörde einem Bürger Auskünfte über den Aufmarsch der Rechtsextremisten verweigert. Begründung: Dies könne Gegendemonstranten bei ihrer "paramilitärischen taktischen Lagesondierung" und beim "Anlegen von Depots von Wurfgeschossen" helfen. SPD-Mann Bialas empört, dass so "aufrechte Demokraten zu potenziellen Gefährdern kategorisiert" würden. Die Behörde zog ihr Schreiben später zurück. Reul bedauert nun einen "Kommunikationsfehler", seine Regierung stelle die Zivilgesellschaft keineswegs "unter Generalverdacht".