Werkstatt Demokratie:"Es reicht nicht, von oben durchzuregieren"

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Wo SZ-Leser "regieren" (Foto: Katharina Bitzl)

Kämpfen, helfen, Mund fusselig reden, Danke sagen: Wir haben Leserinnen und Leser in der Werkstatt Demokratie gefragt, wo sie im Kleinen "regieren". Eine Auswahl der Antworten.

In der Werkstatt Demokratie zum Thema "Gutes Regieren" haben wir auch Sie nach Ihrer Meinung und Ihren Erfahrungen gefragt. Wir wollten wissen, wo im Alltag Politik gemacht wird, wo Sie unangenehme Entscheidungen treffen, um Kompromisse ringen, Verantwortung für andere übernehmen - wo also Sie im Kleinen "regieren". Das haben Sie uns berichtet:

Durchsetzen mit Dankeschön

"In meinem Alltag regiere ich zum Beispiel bei der Arbeit im Einzelhandel. Eine Führungsposition habe ich nicht, allerdings ist es dennoch wichtig - gerade jetzt -, sich bei den Menschen durchzusetzen. Durch die Beschränkungen gibt es täglich viele Diskussionen mit Kunden, warum der Kaffee mitgenommen werden muss, warum die Toilette gesperrt ist ... In diesen manchmal schwierigen Situationen muss man einen kühlen Kopf bewahren, sich freundlich durchsetzen und den Maßnahmen respektvoll Nachdruck verleihen. Ein Dankeschön ist mir nicht zu viel, wenn die Kunden den Vorgaben folgen.

Und zu Hause regiere ich, um die Kinder auf ein gutes Leben vorzubereiten. Das fängt das schon mit den kleinsten Dingen an wie aufräumen oder lernen. Manchmal braucht es etwas Konsequenz und Konfliktbereitschaft. In der Freizeit bin ich Königin, im Moment meist alleine unterwegs. Ich regiere nur über mich, welche Musik mich im Wald oder auf meinen langen Wegen begleiten wird. Zum 'Regieren' braucht man viele Eigenschaften: Empathie, Durchsetzungskraft, Kompromissbereitschaft und, ganz wichtig, Selbstreflektion. Nur so kann man auch die andere Seite sehen und gemeinsam einen Weg finden."

Wenn die anderen spinnen

"Wir sind eine Familie mit zwei Söhnen, beide postpubertär. Kaum einzuhegen, nicht zu überwachen oder durch Verbote einzuschränken. Immer schon haben wir auf Einsicht, nie auf Durchsetzung über ihre Köpfe hinweg, erzogen. Also regieren wir nicht im herkömmlichen Sinne, indem wir Regeln festsetzen und deren Einhaltung überwachen. Wir debattieren, diskutieren, beschwören, machen in der Corona-Krise auf unsere Situation als Ältere und damit Verwundbarere aufmerksam. Wenig Struktur, viel Spielraum. Die Orientierung ist da, aber sie muss immer erst erkannt werden. So wie jetzt in dieser Pandemie.

Die Einsicht diesbezüglich ist da, die Konsequenzen im Begrenzen von Kontakten blieben anfangs überschaubar. Zu Beginn der Pandemie war es noch lustig, mit Abstand auf Parkbänken zu chillen und davon 'Beweisfotos' zu schießen. Aber es ging schnell zurück in die Normalität mit vielen Freunden, Partys, Treffen. Die Clubs hatten geschlossen und alles fand draußen statt. Tausende ostentativ feiernd, laut lachend, schreiend. Trotz Corona? Wegen Corona. Und als Reaktion, das erste Aufbegehren bei unseren Jungs: 'Spinnen die alle?'

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Sie fanden es nicht so cool wie viele andere in ihrem Alter. Offensichtlich hatte sich da etwas entwickelt. Eine Bereitschaft, das Problem wahrzunehmen und anzuerkennen. Aus diesem Bewusstwerden hat sich Disziplin bei Vorsicht und Enthaltsamkeit entwickelt. Die Sozialkontakte finden vermehrt online statt. Man trifft sich zu zweit, mit Abstand und draußen. Wir sind stolz auf unsere Söhne. Sie übernehmen Verantwortung und verzichten auf etwas, das für sie zum Wichtigsten gehört. Ganz ohne Druck, vielleicht weil wir nie Druck ausgeübt haben. Regieren wird einfach, wenn man Vertrauen haben darf. Demokratie ist langsam - das ist eine Chance, kein Fehler."

Eben kein 08/15

"Ich 'regiere', indem ich mich sozial engagiere. Für ein paar 'Sorgenkinder' übernehme ich die Rolle des Kümmerers. Junge Leute, die es nicht einfach haben im Leben und durch klassische Betreuungsansätze durchrutschen: desinteressierte Eltern, Lehrer und Ärzte, die sie nur als 08/15-Nummer durchschieben. Auf dem Weg nach unten wird den Menschen im Namen von Freiheit und Selbstverantwortung nicht geholfen. Wir haben eine Lücke im System: Erst wenn man ganz unten angekommen ist, abgestürzt und knallhart aufgeschlagen ist, springen Hilfsmechanismen wie Hartz IV oder Betreutes Wohnes an - zu spät.

Mein Ansatz ist ein empathischer: With a little help from my friends ist da die Zauberformel. Simple Hausaufgabenhilfe, lebensphilosophische Ratschläge, mal 'nen Antrag, Formular, Ämtergang zusammen machen, auch mal deutlich aufzeigen 'da geht's lang', dafür sorgen, dass sie die Finanzen in den Griff bekommen. Lebenshilfe könnte man dazu sagen. Das moderne Leben ist inzwischen sehr komplex geworden, und ich beobachte, dass viele Leute massiv überfordert sind von den Anforderungen, die unsere Gesellschaft heutzutage bereit hält."

Vom Luxus des Streitens

"Ich regiere meine kleine Ein-Eltern-Familie. Wir, das sind Mama Nina (38) und die Söhne Laurenz (4) und Gustav (2). Ich bin alleinerziehend, aber in Teilzeit, da sich beide Väter um die Kinder kümmern. Bis wir soweit waren, sind wir durch einen langen und oft schmerzhaften Prozess gegangen, der nicht ohne Hilfe von außen in Form von Gerichten, Beratungen und Diskussionen vor sich ging. Ich habe gelernt, wie es ist, für alles verantwortlich zu sein. Das alles erfordert diplomatischen Umgang miteinander und trotz verletzter Gefühle sachliche Auseinandersetzungen und Aufeinanderzugehen.

Was wir im Kleinen leisten, stelle ich mir auch für Größeres vor. Es reicht nicht, von oben 'durchzuregieren', es bedarf einer ständigen Anstrengung und eines ständigen Austausches und es wird immer mit Schwierigkeiten verbunden sein. Zum Wohle unserer Kinder sind wir aber dazu bereit, und das ist es, was für mich auch einen guten politischen Entscheidungsprozess ausmacht. Dran bleiben, auch wenn es schwierig ist. Sich den Mund fusselig reden, für eine Sache kämpfen und soweit als möglich alle ins Boot holen und in Entscheidungen einzubeziehen. Das ist anstrengend, trotzdem lohnt es sich.

Im Umgang mit der Pandemie vermisse ich auch Dankbarkeit und Vertrauen. Dankbarkeit, dass Verantwortung für uns übernommen wird und die Bevölkerung nicht allein gelassen wird. Vertrauen, dass trotz vieler Fehler der Grundtenor ist, dass man sich auf die gewählte Regierung verlassen kann. Bin ich naiv? Mag sein, und mir kommt die Galle hoch, wenn ich dieses ständige Gejammere und Misstrauen um mich herum wahrnehme. Ich bin Krankenschwester und empfinde es als Luxus, dass wir die Zeit und die Muße haben, trotz dieser Pandemie um so viel zu streiten und uns zu beschweren."

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