Weltkriegs-Gedenken und Ukraine-Krise:Aus der Geschichte lernen

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Weltkriegs-Gedenken und Ukraine-Krise: "Putin verschwinde", steht auf diesem Plakat, auf dem Russlands Präsident Frisur und Bart des Nazi-Diktators Adolf Hitler trägt. Die Aufnahme entstand im August nahe der ukrainisch kontrollierten Stadt Wolnowacha in der umkämpften Region Donezk.

"Putin verschwinde", steht auf diesem Plakat, auf dem Russlands Präsident Frisur und Bart des Nazi-Diktators Adolf Hitler trägt. Die Aufnahme entstand im August nahe der ukrainisch kontrollierten Stadt Wolnowacha in der umkämpften Region Donezk.

(Foto: AFP)

Mit seiner Danziger Rede erregt der Bundespräsident Aufsehen: Der Westen müsse Lehren aus der Vergangenheit ziehen und Härte gegenüber Russland zeigen. Hat Gauck recht? Zwölf renommierte Historiker und Diplomaten schreiben in der SZ, was sie von dem Diktum halten.

Gauck und die Geschichte

Auszüge aus der Gedenkrede des Bundespräsidenten am 1. September in Danzig zum deutschen Überfall auf Polen vor 75 Jahren:

"Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzen wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen.

Und deshalb stehen wir ein für jene Werte, denen wir unser freiheitliches und friedliches Zusammenleben verdanken. . . Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass aus unkontrollierter Eskalation eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht.

Deshalb strebt Deutschland - wie die ganze Europäische Union - nach einer deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik, die Prinzipienfestigkeit mit Kompromissfähigkeit, Entschiedenheit mit Elastizität verbindet - und die imstande ist, einer Aggression Einhalt zu gebieten, ohne politische Auswege zu verstellen."

Hier der vollständige Wortlaut der Rede.

Norbert Frei, geboren 1955, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller Universität in Jena

Aus der Geschichte lernen: Das sagt sich so leicht und klingt so gut. Dass man aus der Geschichte auch Falsches lernen und mit historischen Vergleichen provozieren kann, das erleben wir immer wieder, auf allen Seiten. Hand in Hand mit François Mitterrand hat Helmut Kohl vor 30 Jahren über den Gräbern von Verdun die deutsch-französische Freundschaft zelebriert - und zwei Jahre später mit seinem Vergleich von Gorbatschow und Goebbels eine diplomatische Krise ausgelöst.

Zuletzt hat sich Wladimir Putin mit einer Analogie hervorgetan, deren raffinierte Demagogie in der Erregung dieser Tage fast untergegangen ist: Das Vorgehen der ukrainischen Regierungstruppen im Osten des Landes erinnere ihn an die "faschistischen deutschen Truppen in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Großstädte wurden eingekesselt und durch gezielten Beschuss zerstört, samt Einwohnern." Mit solchen Sätzen empört man die Ukrainer, beschämt die Deutschen - und instrumentalisiert das historische Gedächtnis der eigenen Bevölkerung.

Aus der Geschichte lernen: Das muss auf dem engen Kontinent Europa auch und vor allem heißen, die Gefühle der Nachbarn zu achten. Das gilt nicht bloß in einem Jahr, in dem wir des Beginns - nicht des "Ausbruchs" - der beiden Weltkriege gedenken. Dazu gehört, nicht nur nichts Falsches zu sagen, sondern auch nichts Wichtiges ungesagt zu lassen.

In diesem Sinne hätte der Bundespräsident in seiner Rede auf der Westerplatte den Unterschied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg markieren können: Dass es 1939 die Deutschen waren - und sie allein -, die die Welt erneut in Brand setzten. Und Gauck hätte sagen sollen, dass die Deutschen mit dem Überfall auf Polen, von dem auch Stalin profitierte, eine "völkische Flurbereinigung" begannen: einen Vernichtungskrieg, den sie im Sommer 1941 auf die Sowjetunion ausdehnten, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen - und dessen Schlachtfeld auch und nicht zuletzt die Ukraine war.

Es ist wichtig, dass der Westen trotz wiederholter Rückschläge in der Ukraine-Krise zu deeskalieren sucht. Zugleich und zu Recht erwarten nicht nur Polen und Esten, sondern auch verzweifelte Russen, dass der Westen Stärke demonstriert. Aber das ist die Aufgabe der EU und der Nato, nicht des deutschen Bundespräsidenten. Schon gar nicht auf der Westerplatte, nur 75 Jahre danach.

Michail Bojcov, geboren 1961, Professor für Geschichte, früher an der Lomonossow-Universität in Moskau, inzwischen tätig an der Hochschule für Ökonomie.

Die Lehren, die der Bundespräsident aus der Geschichte gezogen hat, finde ich durchaus überzeugend - gerade weil sie so widersprüchlich sind. Einerseits können Unrecht und Aggression keinesfalls toleriert werden, andererseits aber sollte man die Eskalation vermeiden ...

Der Versuch, die beiden Thesen in Einklang zu bringen, ähnelt der Quadratur des Kreises. Diese Figur steht für die (durchaus verständliche) Ratlosigkeit, in welche die europäischen Intellektuellen und Politiker durch die neuesten Entwicklungen getrieben sind. Aber gerade diese Unentschlossenheit ist der beste Beweis dafür, dass man im Stande ist, verschiedene Facetten der höchst komplizierten Situation gleichzeitig zu erkennen. Jede Überbetonung nur einer von ihnen kann zu gefährlicher Simplifizierung der Lage und zu entsprechenden Fehlreaktionen führen.

In einem Punkt bin ich mit Herrn Gauck nicht einverstanden: zur wirklichen und nicht nur oberflächlichen Integration Russlands ist es bis jetzt gar nicht gekommen. Der Westen hat die große Chance dafür Anfang der Neunzigerjahre leider versäumt. Man darf denselben Fehler bei der nächsten Gelegenheit nicht wiederholen.

Denn diese Gelegenheit wird sich früher oder später bestimmt bieten, nachdem Russland von seinen akuten postkolonialen Spannungen allmählich genesen wird. Von der Ukraine Abschied zu nehmen, ist für die Russen unvergleichbar dramatischer, als es etwa für die Franzosen war, Algerien zu verlassen. Keine europäische Macht hat sich von ihrer kolonialen Vergangenheit ohne Gewaltpsychose gelöst. Dadurch ist aber keine weniger europäisch geworden. Wir alle müssen Geduld haben und die langfristige Perspektive nicht aus dem Blick verlieren.

Karl Schlögel, geboren 1948, bis 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Viadrina in Frankfurt an der Oder

Zweifellos ist Geschichte lehrreich. Die heute Lebenden sehen sich darin um, lernen das historische Personal kennen, können Aktions- und Reaktionsformen studieren, die Genese von Katastrophen oder auch wie man sie vermeidet sich vor Augen führen.

Man verschafft sich Wissen, um sich einen Reim zu machen, warum etwas so und nicht anders gelaufen ist. Man lernt, wie unendlich komplex, ja aussichtslos historische Entscheidungssituationen sein können. Man lernt etwas von den menschlichen Abgründen, vor denen die Nachgeborenen bisher verschont geblieben sind, und man wird inspiriert oder beschämt durch das, was anständige und tapfere Menschen zuwege bringen können.

Kurzum: Man wird demütig, man spielt den Wissensvorsprung, den die Nachgeborenen unverdientermaßen haben, nicht gegen jene aus, über die die Geschichte hereingebrochen ist.

Historische Analogieschlüsse sind in der Regel Fallen, weil sich keine Situation wiederholt. Aber das Studium vergleichbarer Situationen schärft den analytischen Blick und hilft uns in der Gegenwart, in diesem "Dunkel des gelebten Augenblicks" (Ernst Bloch) besser zu bestehen.

Es ist beruhigend zu wissen, dass es an der Spitze unseres Gemeinwesens einen Präsidenten gibt, der nicht nur den Toten und den Opfern seine Ehre erweist, sondern auch von dem spricht, was heute der Fall ist. Eine Gedenkrede zu halten zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, mit dem die Deutschen unendliches Unheil vor allem über das östliche Europa gebracht haben, in der aber das Heute, der Angriff Russlands auf die Ukraine, nicht vorkommt, wäre etwas Gespenstisches, ja Unmoralisches gewesen. Es ist schon längst Zeit, aus dem Recycling der Jahrestage auszuscheiden und sich der Gegenwart zu stellen. Die derzeitige Ohnmacht des Westens gegenüber dem virtuosen und skrupellosen Spiel Putins zeigt ja, dass er nicht auf der Höhe der Zeit ist.

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