Süddeutsche Zeitung

Weltkriegs-Gedenken und Ukraine-Krise:Aus der Geschichte lernen

Mit seiner Danziger Rede erregt der Bundespräsident Aufsehen: Der Westen müsse Lehren aus der Vergangenheit ziehen und Härte gegenüber Russland zeigen. Hat Gauck recht? Zwölf renommierte Historiker und Diplomaten schreiben in der SZ, was sie von dem Diktum halten.

Gauck und die Geschichte

Auszüge aus der Gedenkrede des Bundespräsidenten am 1. September in Danzig zum deutschen Überfall auf Polen vor 75 Jahren:

"Weil wir am Recht festhalten, es stärken und nicht dulden, dass es durch das Recht des Stärkeren ersetzen wird, stellen wir uns jenen entgegen, die internationales Recht brechen, fremdes Territorium annektieren und Abspaltung in fremden Ländern militärisch unterstützen.

Und deshalb stehen wir ein für jene Werte, denen wir unser freiheitliches und friedliches Zusammenleben verdanken. . . Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern. Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass aus unkontrollierter Eskalation eine Dynamik entstehen kann, die sich irgendwann der Steuerung entzieht.

Deshalb strebt Deutschland - wie die ganze Europäische Union - nach einer deeskalierenden Außen- und Sicherheitspolitik, die Prinzipienfestigkeit mit Kompromissfähigkeit, Entschiedenheit mit Elastizität verbindet - und die imstande ist, einer Aggression Einhalt zu gebieten, ohne politische Auswege zu verstellen."

Hier der vollständige Wortlaut der Rede.

Norbert Frei, geboren 1955, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller Universität in Jena

Aus der Geschichte lernen: Das sagt sich so leicht und klingt so gut. Dass man aus der Geschichte auch Falsches lernen und mit historischen Vergleichen provozieren kann, das erleben wir immer wieder, auf allen Seiten. Hand in Hand mit François Mitterrand hat Helmut Kohl vor 30 Jahren über den Gräbern von Verdun die deutsch-französische Freundschaft zelebriert - und zwei Jahre später mit seinem Vergleich von Gorbatschow und Goebbels eine diplomatische Krise ausgelöst.

Zuletzt hat sich Wladimir Putin mit einer Analogie hervorgetan, deren raffinierte Demagogie in der Erregung dieser Tage fast untergegangen ist: Das Vorgehen der ukrainischen Regierungstruppen im Osten des Landes erinnere ihn an die "faschistischen deutschen Truppen in der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Großstädte wurden eingekesselt und durch gezielten Beschuss zerstört, samt Einwohnern." Mit solchen Sätzen empört man die Ukrainer, beschämt die Deutschen - und instrumentalisiert das historische Gedächtnis der eigenen Bevölkerung.

Aus der Geschichte lernen: Das muss auf dem engen Kontinent Europa auch und vor allem heißen, die Gefühle der Nachbarn zu achten. Das gilt nicht bloß in einem Jahr, in dem wir des Beginns - nicht des "Ausbruchs" - der beiden Weltkriege gedenken. Dazu gehört, nicht nur nichts Falsches zu sagen, sondern auch nichts Wichtiges ungesagt zu lassen.

In diesem Sinne hätte der Bundespräsident in seiner Rede auf der Westerplatte den Unterschied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg markieren können: Dass es 1939 die Deutschen waren - und sie allein -, die die Welt erneut in Brand setzten. Und Gauck hätte sagen sollen, dass die Deutschen mit dem Überfall auf Polen, von dem auch Stalin profitierte, eine "völkische Flurbereinigung" begannen: einen Vernichtungskrieg, den sie im Sommer 1941 auf die Sowjetunion ausdehnten, dem Millionen von Menschen zum Opfer fielen - und dessen Schlachtfeld auch und nicht zuletzt die Ukraine war.

Es ist wichtig, dass der Westen trotz wiederholter Rückschläge in der Ukraine-Krise zu deeskalieren sucht. Zugleich und zu Recht erwarten nicht nur Polen und Esten, sondern auch verzweifelte Russen, dass der Westen Stärke demonstriert. Aber das ist die Aufgabe der EU und der Nato, nicht des deutschen Bundespräsidenten. Schon gar nicht auf der Westerplatte, nur 75 Jahre danach.

Michail Bojcov, geboren 1961, Professor für Geschichte, früher an der Lomonossow-Universität in Moskau, inzwischen tätig an der Hochschule für Ökonomie.

Die Lehren, die der Bundespräsident aus der Geschichte gezogen hat, finde ich durchaus überzeugend - gerade weil sie so widersprüchlich sind. Einerseits können Unrecht und Aggression keinesfalls toleriert werden, andererseits aber sollte man die Eskalation vermeiden ...

Der Versuch, die beiden Thesen in Einklang zu bringen, ähnelt der Quadratur des Kreises. Diese Figur steht für die (durchaus verständliche) Ratlosigkeit, in welche die europäischen Intellektuellen und Politiker durch die neuesten Entwicklungen getrieben sind. Aber gerade diese Unentschlossenheit ist der beste Beweis dafür, dass man im Stande ist, verschiedene Facetten der höchst komplizierten Situation gleichzeitig zu erkennen. Jede Überbetonung nur einer von ihnen kann zu gefährlicher Simplifizierung der Lage und zu entsprechenden Fehlreaktionen führen.

In einem Punkt bin ich mit Herrn Gauck nicht einverstanden: zur wirklichen und nicht nur oberflächlichen Integration Russlands ist es bis jetzt gar nicht gekommen. Der Westen hat die große Chance dafür Anfang der Neunzigerjahre leider versäumt. Man darf denselben Fehler bei der nächsten Gelegenheit nicht wiederholen.

Denn diese Gelegenheit wird sich früher oder später bestimmt bieten, nachdem Russland von seinen akuten postkolonialen Spannungen allmählich genesen wird. Von der Ukraine Abschied zu nehmen, ist für die Russen unvergleichbar dramatischer, als es etwa für die Franzosen war, Algerien zu verlassen. Keine europäische Macht hat sich von ihrer kolonialen Vergangenheit ohne Gewaltpsychose gelöst. Dadurch ist aber keine weniger europäisch geworden. Wir alle müssen Geduld haben und die langfristige Perspektive nicht aus dem Blick verlieren.

Karl Schlögel, geboren 1948, bis 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Viadrina in Frankfurt an der Oder

Zweifellos ist Geschichte lehrreich. Die heute Lebenden sehen sich darin um, lernen das historische Personal kennen, können Aktions- und Reaktionsformen studieren, die Genese von Katastrophen oder auch wie man sie vermeidet sich vor Augen führen.

Man verschafft sich Wissen, um sich einen Reim zu machen, warum etwas so und nicht anders gelaufen ist. Man lernt, wie unendlich komplex, ja aussichtslos historische Entscheidungssituationen sein können. Man lernt etwas von den menschlichen Abgründen, vor denen die Nachgeborenen bisher verschont geblieben sind, und man wird inspiriert oder beschämt durch das, was anständige und tapfere Menschen zuwege bringen können.

Kurzum: Man wird demütig, man spielt den Wissensvorsprung, den die Nachgeborenen unverdientermaßen haben, nicht gegen jene aus, über die die Geschichte hereingebrochen ist.

Historische Analogieschlüsse sind in der Regel Fallen, weil sich keine Situation wiederholt. Aber das Studium vergleichbarer Situationen schärft den analytischen Blick und hilft uns in der Gegenwart, in diesem "Dunkel des gelebten Augenblicks" (Ernst Bloch) besser zu bestehen.

Es ist beruhigend zu wissen, dass es an der Spitze unseres Gemeinwesens einen Präsidenten gibt, der nicht nur den Toten und den Opfern seine Ehre erweist, sondern auch von dem spricht, was heute der Fall ist. Eine Gedenkrede zu halten zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, mit dem die Deutschen unendliches Unheil vor allem über das östliche Europa gebracht haben, in der aber das Heute, der Angriff Russlands auf die Ukraine, nicht vorkommt, wäre etwas Gespenstisches, ja Unmoralisches gewesen. Es ist schon längst Zeit, aus dem Recycling der Jahrestage auszuscheiden und sich der Gegenwart zu stellen. Die derzeitige Ohnmacht des Westens gegenüber dem virtuosen und skrupellosen Spiel Putins zeigt ja, dass er nicht auf der Höhe der Zeit ist.

Jochen Hellbeck, geboren 1966, Osteuropahistoriker und Professor an der Rutgers University in New Jersey

Politiker haben immer wieder die Geschichte bemüht, mit wechselndem Erfolg. Zu ihnen gehörte auch Neville Chamberlain, der vielgescholtene Architekt des Münchner Abkommens von 1938. Chamberlain rechtfertigte das Abkommen mit den Lehren des Ersten Weltkriegs: Eine Einigung mit Hitler sei nötig, um einen noch schlimmeren Krieg zu verhindern. Es kam dann alles anders. Nun verweist Bundespräsident Gauck auf das Scheitern von Appeasement, um umgekehrt für eine Politik der Stärke zu werben. Kann sie den Frieden erhalten? Wir werden es erst hinterher wissen.

Erhellend sind die Äußerungen des Bundespräsidenten dennoch, weil sie zeigen, welches Geschichtsbild ihn bewegt. Joachim Gauck nutzte das Gedenken an den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, um in Polen stehend ein "gemeinsames Europa" zu beschwören - jedoch ohne Russland, dessen Präsidenten Wladimir Putin Gauck durch die Blume mit Adolf Hitler verglich. Das ist alarmierend.

Wenn die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert überhaupt eine Erkenntnis für die heutige Zeit birgt, dann jene, dass eingedenk der von Deutschen in Osteuropa angerichteten Verwüstungen politische Vertreter unseres Landes sich dort mit besonderem Nachdruck für Frieden und Ausgleich bemühen müssen. Das gilt für Russland nicht weniger als für Polen und die Ukraine. Der deutsche Angriff auf Polen führte nahtlos zum Krieg gegen die Sowjetunion und gipfelte in unvorstellbarem Massenmord. Gauck verlor hierüber kein Wort.

Historische Empfindlichkeiten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sind ursächlich am heutigen Ukraine-Konflikt beteiligt. Man muss nur zuhören, wie sich ukrainische Nationalisten einerseits und Separatisten und die russische Führung andererseits wechselseitig "Okkupanten" und "Faschisten" schimpfen. Mit seiner Haltung zu Russland verweigert sich Gauck nicht nur dem Dialog, den zu führen seine vordringliche Aufgabe wäre; er gießt zudem noch weiteres Öl ins Feuer.

Andreas Wirsching, geboren 1959, ist Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte und Professor für Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München

Geschichte ist unwiederholbar. Die Einzigartigkeit jeder historischen Konstellation verbietet es, einfache Parallelen abzuleiten. Insofern zeigt auch die Krise in der Ukraine, dass historische Erfahrung keine politische Entscheidung ersetzen kann. Das Anschauungsmaterial der Geschichte erlaubt keine Handlungsanweisung für die Gegenwart.

Aber natürlich gibt es Ähnlichkeiten. So verfängt sich Putin offenkundig in einem selbst gesponnenen, semantisch-ideologischen Netz, an dem zunehmend unkontrollierbare Kräfte ziehen. Es besteht aus Verletztheit und nationalistischer Rhetorik, irredentistischen Ansprüchen und Freund-Feind-Denken, Halbwahrheiten und glatter Lüge.

Die Geschichte lehrt leider, dass eine solche Rhetorik meist beim Wort genommen werden will, soll sie nicht am Ende denjenigen, der sie anwendet, selbst delegitimieren. Historische Beispiele verweisen keineswegs nur auf Hitler und Mussolini, sondern wohl mehr noch auf jüngere Erfahrungen wie etwa in Jugoslawien. Aber Russland ist nicht Serbien und Putin kein Milošević, der am Ende militärisch kalkulierbar zum Schweigen gebracht werden könnte.

Europa und die USA werden daher alles daran setzen müssen, neben der unzweifelhaft erforderlichen Härte auch nach Exit-Strategien zu fahnden. Sie müssen russische Interessen mit einbeziehen und es Putin ermöglichen, die Situation ohne Gesichtsverlust zu deeskalieren. Ihm muss klarwerden, dass es das eigene Interesse gebietet, das gesponnene Netz zu zerreißen: um damit die internationale Isolation zu überwinden und Russland wieder zu einem ebenso einflussreichen wie geachteten Partner zu machen.

Avraham "Avi" Primor, Jahrgang 1935, übte mehrere Tätigkeiten im diplomatischen Dienst Israels aus, auch als Botschafter in Deutschland. Er ist amtierender Präsident des Israel Council on Foreign Relations. Primor gründete das trilaterale Zentrum für Europäische Studien an der Privatuniversität Interdisciplinary Center (IDC) Herzliya, das inzwischen an die Universität Tel Aviv gekoppelt ist.

"Die Geschichte wiederholt sich nicht, und wenn dann nur als Farce," sagte Karl Marx. Das bedeutet jedoch nicht, dass man aus der Geschichte nicht lernen kann oder soll. Man kann auch ohne Geschichtskenntnisse überleben, aber nur so, wie man auch als Analphabet überleben kann.

Die Geschichte ist jedoch kein Lehrbuch und sollte nur als Rohstoff verstanden werden. Man sollte nicht automatisch ablehnen, was in der Geschichte falschlief und man sollte nicht automatisch kopieren, was in der Geschichte gelang. Tatsache ist, dass jeder auf die Geschichte blickt, aber nicht jeder die gleichen Schlussfolgerungen daraus zieht.

Im Krieg sieht man immer wieder, wie der Sieger sich auf seinem Sieg ausruht und seine Aktionen davon bestätigt sieht, während der Verlierer seine Aktionen anpassen will, um es das nächste Mal besser zu machen. Das haben wir überall erlebt, auch in Israel. Israel tappte 1973 in die ägyptische Falle, weil es sich auf die Erinnerung an seinen Sieg 1967 verließ, während die Ägypter gerade wegen ihrer Niederlage ihre Taktik geändert hatten. Auch in den Kriegen zwischen Israel und der Hamas wiederholt sich dies.

Aus jedem Krieg, in dem Israel sich als Sieger betrachtet, zieht die Hamas Lehren und entwickelt neue Methoden, die Israel im nächsten Krieg schmerzlich überraschen. In Europa der dreißiger Jahre wollten alle eine Lehre aus 1914, als sie widerwillig in einen Weltkrieg gerutscht waren, ziehen.

Die Lehre sollte lauten, den anderen besser zu verstehen, ihm womöglich auch nachzugeben. Das Ergebnis aber war die Appeasementpolitik, die die Aggressoren in Japan, in Italien und in Deutschland nicht beschwichtigte, sondern eher in ihren Plänen ermutigte.

Fazit: Man muss die Lehren aus der Vergangenheit den neuen Umständen anpassen. So wie in jedem Bereich, auch im Privaten, sind die Lehren aus Erfahrungen unentbehrlich, man muss sie aber angesichts der rasanten Entwicklung der Lebensrealitäten immer wieder in Frage stellen.

Ute Frevert, Jahrgang 1954, ist Historikerin und Direktorin des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin

"Historia magistra vitae est" (Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens; Anm. d. Red.): Diese Weisheit ist seit Beginn der Moderne fragwürdig geworden. In dem Maße, in dem man sich von der Vorstellung eines zyklischen Geschichtsverlaufs verabschiedete und die Zukunft als prinzipiell offen begriff, geriet die Vergangenheit als Lehrmeisterin der Gegenwart in Verruf. Vor diesem Hintergrund nehmen sich historische Analogien und Lehrsätze, wie sie immer wieder und jetzt erneut bemüht werden, grundsätzlich schief und irreführend aus.

Dahinter verbergen sich genuin politische Aussagen und Botschaften, die sich ein wissenschaftliches Mäntelchen umhängen, um an Überzeugungskraft zu gewinnen. Doch selbstverständlich ist Putin nicht Hitler, und die territoriale Expansion Russlands in Richtung Krim und Ostukraine verfolgt völlig andere Ziele als die in der Tschechoslowakei 1938 beginnende Lebensraum-Politik des Nationalsozialismus.

Ebenso lässt die Assoziation "Julikrise 1914" außer Acht, dass es damals nicht nur andere innen- und außenpolitische Mächtekonstellationen gab, sondern auch andere Weltbilder und Kriegserfahrungen auf politische Entscheidungen einwirkten.

Zweifellos ist historisches Wissen wichtig, um solche Entscheidungen, damals wie heute, erklären und gewichten zu können. Und auch historische Vergleiche können hilfreich sein - aber nur dann, wenn sie auf voreilige Analogieschlüsse verzichten und neben dem (vorgeblich) Ähnlichen auch das Verschiedene in die Analyse einbeziehen.

Ulrich Herbert, geboren 1951, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg

Historische Analogien werden überschätzt. Im Ukraine-Konflikt wird das Vorgehen Russlands heute mit demjenigen Hitlers beim Münchner Abkommen von 1938 verglichen. Auf der anderen Seite wird die ukrainische Regierung von den russischen Medien als "faschistische Junta" bezeichnet. Das ist Teil des Kriegsgeschreis. Den Ukraine-Konflikt kann man ohne solche historischen Bezüge besser verstehen als mit ihnen.

Erstens: Die Annexion der Krim durch Russland ist ein inakzeptabler Bruch des Völkerrechts; die Unterstützung der ostukrainischen Separatisten durch Kriegsmaterial und russische Truppen ebenso.

Zweitens: Die Lösung des Konflikts kann nur auf dem Verhandlungswege und durch Kompromisse erreicht werden. Dabei sind die Interessen der Ukraine und ihrer westlichen Anrainer ebenso zu berücksichtigen wie diejenigen Russlands und der russisch orientierten Bevölkerungsgruppen in der Ostukraine.

Drittens: Dass die westlichen Staaten und die Bundesrepublik, wie der Bundespräsident formuliert hat, ihre "Politik, Wirtschaft und Verteidigungsbereitschaft den neuen Umständen anpassen" werden, ist ihr gutes Recht. Dies drohend anzukündigen, ist hingegen kritikwürdig, weil es zur Eskalation der Worte beiträgt.

Viertens: Nicht nur Polen und die baltischen Staaten haben historisch begründete Ängste. Eine Westorientierung der Ukraine, womöglich sogar ihr Nato-Beitritt wird in Russland als Bedrohung verstanden. Darauf in dieser Rede gar nicht eingegangen zu sein, wird man dem Bundespräsidenten vorhalten müssen.

James D. Bindenagel, Jahrgang 1949, ist Inhaber der Henry-Kissinger-Professur an der Uni Bonn. Der Experte für transatlantische Beziehungen fungierte über Jahrzehnte als Diplomat, unter anderem als amerikanischer Botschafter in Deutschland.

Wer Geschehnisse vereinfachen oder aus der Vergangenheit mögliche Lösungen für die Gegenwart ableiten möchte, für den sind historische Parallelen mächtige Instrumente. Dies ist aber immer mit dem hohen Risiko verbunden, Geschichte falsch zu deuten.

Mit der Annexion der Krim und den Attacken auf die Ukraine verfolgt der russische Präsident Wladimir Putin einen Plan: Er möchte das russische Reich wiederbeleben. Dazu verteidigt er ethnische Russen mit militärischer Gewalt. Aber Putins Großmachtpolitik verletzt die Werte, die Europa Frieden brachten. Zudem missachtet er die demokratischen Rechte der Ukraine. Erst warf er dem ehemaligen sowjetischen Präsidenten Michael Gorbatschow vor, versagt zu haben, weil er 1989 die russischen Interessen in Ostdeutschland nicht vehementer verteidigte, dann beschuldigte er den Westen mit der Osterweiterung der Nato, Russland zu bedrohen.

Analysten zogen umgehend Vergleiche mit der Besetzung des Sudetenlandes und Österreichs durch Nazi-Deutschland. Dabei ist die Situation in der Ukraine wohl eher mit jener im Kosovo zu vergleichen. Denn Präsident Slobodan Milošević griff den Kosovo an, um Serbiens ethnisch-nationalistische Herrschaft auszubauen. Dafür focht er erneut die historische Schlacht auf dem Amselfeld aus. Die Nato intervenierte und beendete den Angriff.

Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenwürde: Alle Prinzipien, auf die sich Stabilität und Frieden in Europa nach dem zweiten Weltkrieg stützten, wurden in beiden Fällen missachtet. Gaucks Aufruf zu einer "Politik der Deeskalation, die harte Maßnahmen mit der Bereitschaft zum Kompromiss und Entschlossenheit mit Anpassungsfähigkeit verbindet", wird Putins Aggressionen nicht stoppen. Eine politische Lösung kann nur gefunden werden, wenn hinter der europäischen Diplomatie auch die Bereitschaft steht, Putins Großmachtbestrebungen entschieden entgegenzutreten. Zudem muss Putin bereit sein, die Militäraktionen zu beenden.

"Das Ritual aufgesprengt"

Magdalena Waligórska, ist Professorin an der Universität Bremen für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas im 19. und 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt Polen

Machiavelli war der Ansicht: Wer die Zukunft voraussehen wolle, müsse in die Vergangenheit blicken. Dennoch ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, welche Fehler Menschen gemacht haben, wenn sie aus der Geschichte lernen wollten.

Im Jahr 1915 erinnerten sich die Russen an die Napoleonischen Kriege - in ihrem Bemühen, den deutschen Angreifern nur verbrannte Erde zu hinterlassen, zwangen sie mehr als eine Million weißrussische Bauern, ihre Dörfer zu verlassen und ihre Häuser niederzubrennen, um die Versorgung der Deutschen mit Lebensmitteln und Nachschub zu verhindern. Dabei übersahen sie die Tatsache, dass die Angreifer über ein gutes Eisenbahnnetz verfügten und die Versorgung auf diese Weise sichern konnten.

Die polnischen Juden wiederum, die im Ersten Weltkrieg von den deutschen Truppen relativ gut behandelt worden waren, vertrauten im Zweiten Weltkrieg ebenfalls auf historische Erfahrung - viele von ihnen verpassten die Gelegenheit, rechtzeitig zu emigrieren und dem Terror zu entgehen. Sie wollten nicht wahrhaben, dass sie es nun mit ganz anderen Deutschen zu tun hatten. Obwohl es verführerisch ist, die Geschichte zu bemühen, um die Zukunft zu verstehen oder politische Entscheidungen zu rechtfertigen, sollte man zurückhaltend bleiben.

Man kann aus der Geschichte lernen, was die aktuellen Streitpunkte und die Beweggründe der handelnden Akteure im Ukraine-Konflikt sind, aber der Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg wird uns nicht helfen, eine für alle befriedigende politische Lösung zu finden.

Wolfram Wette, Jahrgang 1940, ist außerplanmäßiger Professor für Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Freiburg

Verstehen heißt ja nicht billigen. Aber gegenseitiges Verstehen ist die unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Politik der Deeskalation und Kriegsverhütung. Wer heute in den politischen Auseinandersetzungen den - abschätzig gemeinten - Begriff "Russland-Versteher" verwendet, gibt zu erkennen, dass er nichts begriffen hat.

Russische Außenpolitik ist geprägt von der historischen Erinnerung an den Einfall der napoleonischen Heere in das Land 1812, von der Erinnerung an die deutsche Aggression im Ersten Weltkrieg und den für Russland außerordentlich harten und demütigenden Frieden von Brest-Litowsk 1918, von der Erinnerung an den Überfall der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 und die sich anschließende völkerrechtswidrige Vernichtungspolitik im Dienste deutscher Lebensraum-Ziele, die 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete.

Weiterhin ist sie geprägt von der Erinnerung an 1989, an den machtpolitischen Zusammenbruch der Sowjetunion, der sich - welch Wunder! - gewaltfrei vollzog. Das Ende der Sowjetunion wurde dort auch als eine militärische Niederlage im Kalten Krieg wahrgenommen und damit als eine weitere tiefe Demütigung. Die derzeitige Regierung Russlands ist nicht zuletzt von diesen historischen Erfahrungen geprägt, von Sicherheitsbedürfnissen - vor der eigenen Haustür! - und von dem Bestreben, wieder als Großmacht respektiert zu werden.

Am Willen zum Verstehen und zur Deeskalation hat es 1914 insbesondere bei den Regierungen in Wien und in Berlin gefehlt. Stattdessen waren die Akteure bereit, einen Großen Krieg zu riskieren. Im aktuellen Ukraine-Konflikt übt sich die deutsche Bundesregierung, vorweg ihr Außenminister, vor und hinter den Kulissen um Eindämmung und Deeskalation. Den Deutschen steht es gut an, jeden verschärfenden Wortgebrauch zu vermeiden.

Herfried Münkler, geboren 1951, ist Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

Die Formel, dass wir, die Deutschen, "aus der Geschichte gelernt hätten", gehört zum Grundvokabular des deutschen politisch-kulturellen Selbstverständnisses - zu dem der alten Bundesrepublik ebenso wie zu dem der ehemaligen DDR, auch im wiedervereinten Deutschland darf in Festansprachen diese Versicherung nicht fehlen. Insofern hat Bundespräsident Gauck in seiner Rede zum 75. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen nur dem politischen Ritual genügt.

Aber er hat es gleichzeitig aufgesprengt, indem er das Lernen aus der Geschichte konkretisiert hat: dahingehend, dass das Verschieben von Grenzen nicht den Frieden sichere, sondern nur neue Begehrlichkeiten zur Folge habe. Dieser Satz ist uneingeschränkt wahr, sofern er auf die Deutschen bezogen wird. Gauck hat ihn aber nicht auf die Deutschen, sondern auf die russische politisch-militärische Elite bezogen.

Ist der Satz darum falsch geworden? Sind andere politische Akteure vom Lernen aus der Geschichte freigestellt? Oder handelt es sich bei der Redewendung bloß um eine Leerformel, die man verwenden muss, aber nicht konkretisieren darf?

Jenseits der Frage, ob die in Gaucks Rede hergestellte Parallele zwischen 1938 und 2014 zutreffend oder zumindest aufklärend ist, ist mit der Debatte über historische Parallelen auch die deutsche Selbstversicherung, man habe "aus der Geschichte gelernt", zur Disposition gestellt: nicht durch Gauck, sondern durch seine Kritiker. Wenn man nämlich nicht sagen darf, was man gelernt hat, oder das Gelernte nur für die Deutschen, sonst aber für niemanden gilt, dann hat man tatsächlich nichts gelernt.

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