Walter Scheel über Würde und Anerkennung:Wenn Bundespräsidenten altern

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Wie es ist, sich in die Hände anderer Menschen zu begeben, und warum auch die Würde der 90-Jährigen unantastbar sein sollte: Alt-Bundespräsident Walter Scheel wünscht sich ein Umdenken in der Gesellschaft.

Altbundespräsident Walter Scheel

Als ich als Vorsitzender der FDP 1969 in den Wahlkampf gezogen bin, da haben wir auf unserem Nürnberger Parteitag "Praktische Politik für Deutschland - Das Konzept der FDP" einen relativ großen Raum für das Leben im Alter formuliert. Aber anders als heute, da sich die demographische Entwicklung dramatisch geändert hat, ging es uns vor allem um die finanzielle Alterssicherung. Jeder Mensch sollte auch nach dem Berufsleben ordentlich leben können und entsprechend abgesichert sein. Wir haben uns für eine Altersgrundsicherung ausgesprochen, wir wollten eine zusätzliche Alterssicherung verpflichtend einführen, jeder sollte Zugang zum Rentensystem haben, wir wollten einen Rechtsanspruch der nicht berufstätigen Ehefrauen auf Alterssicherung verwirklichen - alles dies Forderungen auf der Basis eigenverantwortlichen Handelns.

Materiell hat sich in den mehr als vier Jahrzehnten seit diesem Parteitag vieles zum Besseren entwickelt in der Bundesrepublik. Altersarmut ist und bleibt ein Problem, aber in den vergangenen Jahren ist sie sogar leicht gesunken - viele ältere und alte Menschen leben heute im Wohlstand. Es ist schwierig, darüber zu spekulieren, ob die materiellen Sorgen der Rentner zunehmen werden - einige Sozialforscher befürchten das, andere wiederum sind da optimistischer.

Was wir damals aber in unserem Programm nicht gesehen haben und was heute auch selten ausgesprochen wird, ist die Frage nach der Würde der älteren Menschen, der Umgang mit den Menschen in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Wer könnte das besser erklären als ein fast 93-Jähriger?

Ich bin zehn Jahre lang regelmäßig von Berlin nach Freiburg gefahren, um dort meine Schwiegermutter zu besuchen. Sie ist mit fast 102 Jahren vor kurzem gestorben. Dabei stellte sich mir immer wieder die Frage: Wie wird es mir einmal gehen? Werden mich die Hände derer, die mich da pflegen, menschenwürdig behandeln? Man könnte meinen, dass ein früherer Bundespräsident solchen Fragen gelassen gegenüberstehen kann. Aber auch frühere Bundespräsidenten werden irgendwann ganz normale ältere Herren, die sich mit den Fragen ihres Lebens beschäftigen müssen; mit den Fragen eines Lebens, in dem die Kraft abnimmt, in dem man Abschied nehmen muss von der einstigen Selbständigkeit, in dem man sich, obwohl gewohnt, selbst zu entscheiden und die Dinge in der Hand zu haben, in die Hände anderer Menschen begeben muss. Wie schön ist es, die menschliche Hilfe seiner Umgebung anzunehmen, und doch ist es auch schwer!

Meine Frau fuhr regelmäßig frühmorgens, mittags und manchmal am Abend 20 Kilometer, um sich um ihre alte Mutter zu kümmern. Die letzten Wochen ihres Lebens musste auch sie einen Pflegedienst in Anspruch nehmen. Und da machten beide ihre teils sehr unschönen Erfahrungen. "Kind, man nimmt mir meine ganze Würde. Bitte tu doch etwas dagegen!" Das war das Vermächtnis, das sie meiner Frau hinterließ. Und daraus entstand die Idee, eine Stiftung für "Recht und Würde" ins Leben zu rufen.

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