Tunesien:Die Wahl, bei der kaum jemand wählen geht

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Ein Wahllokal in einem Vorort von Tunis. (Foto: IMAGO/Chedly Ben Ibrahim/IMAGO/NurPhoto)

Im Sommer 2021 hatte Tunesiens Präsident Kais Saied Parlament und Regierung abgesetzt. Die Mehrheit der politikverdrossenen Bevölkerung jubelte ihm zu. Am Samstag ließ er über ein neues Parlament abstimmen. Die Wahlbeteiligung lag unter neun Prozent.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Khaled Saad sitzt mit seiner Frau Mouna und ihrer gemeinsamen 6-jährigen Tochter in einem Straßenrestaurant vor der Zitouna-Moschee in der Medina von Tunis. In den engen Gassen herrscht wegen der für Dezember ungewöhnlichen Temperatur von 25 Grad mehr Trubel als an normalen Wochenenden. Vielleicht liegt es auch am heutigen Datum, dem 17. Dezember, dass so viele Familien wie die Saads unterwegs sind. An dem Feiertag wird an die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi und den Beginn der Revolution vor 12 Jahren erinnert. Der junge Tunesier hatte sich wegen der Polizeiwillkür in seiner Heimatstadt Sidi Bouzid mit Benzin übergossen und starb wenige Wochen später. Die Wut über die grassierende Korruption von Polizei und Politikern erfasste das ganze Land und führte zum Sturz mehrerer Regime in Nordafrika.

Mit Bedacht hat Präsident Kais Saied die Parlamentswahlen für den 17. Dezember angesetzt. Der 64-Jährige propagiert die Fortsetzung der Revolution und setzt stoisch sein Projekt der Basisdemokratie um, in der politische Parteien nur noch eine Nebenrolle spielen. Das Ende der 2014 von vielen gesellschaftlichen Akteuren geschaffenen und vielgelobten Verfassung begründet Saied stets mit der Gefahr der Islamisten aus dem Umfeld der Ennahda-Partei und der korrupten Wirtschaftselite.

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Tatsächlich hatte die Mehrheit der Tunesier seinen Putsch gegen das Parlament im Sommer 2021 auf der Straße gefeiert. Aufgrund der Untätigkeit der Parlamentarier trotz der weltweit höchsten Corona-Infektionszahlen erklärte er diese einfach für eine Gefahr für die nationale Sicherheit.

"Auch ich habe ihn damals unterstützt", sagt Khaled Saad. "Die live im Fernsehen übertragenen Handgreiflichkeiten zwischen den ehemaligen Regimeanhängern von Abir Moussi und Seifedinne Makhlouf, dem Anführer der Islamisten, waren unwürdig und unpatriotisch. Diese Form von Demokratie wollen wir nicht."

Bewaffnete Soldaten vor den Wahllokalen - und kaum Wähler darin

Der 47-Jährige hält viel davon, dass Saied Homosexualität ablehnt und die Todesstrafe befürwortet. "Wir müssen Tunesien mit unseren Werten neu aufbauen", sagt Saad. Wie viele andere glaubt er nicht, dass Kais Saied dafür der richtige Präsident ist. "Ich verdiene als Unternehmer mit 4000 Dinar im Monat viel mehr als viele meiner Freunde und komme dennoch kaum über die Runden. Und das Wort Wirtschaft hat Saied seit dem Putsch nicht einmal in den Mund genommen." Das Monatseinkommen von umgerechnet 1200 Euro reiche nicht, um die Schulbücher seiner älteren Tochter zu kaufen, die bis vor wenigen Jahren vom Staat gestellt worden waren, sagt Mouna Saad. Sie hat seit 2011 noch kein einziges Mal gewählt. "Alles ist in Tunesien in den letzten Jahren schlechter geworden. Saied ist kein Politiker und hat offenbar keine Lösungen - und reißt dennoch alle Macht an sich."

Kais Saied gibt seine Stimme ab. (Foto: dpa/dpa)

Einige hundert Meter weiter, direkt unterhalb des Unabhängigkeitsdenkmals Tunesiens, bewachen drei mit Schnellfeuergewehren ausgerüstete Soldaten den Eingang einer Schule. Wie alle Schulen im Land ist auch das Pacha-Gymnasium in ein Wahllokal umgewandelt worden. Zahlreiche Wahlhelfer haben die Namenslisten der registrierten 900 Wähler des Wahlbezirks "Kasbah" auf Pinnwände geheftet. Die Organisation der staatlichen Wahlbehörde ISIE läuft wie in den vergangenen Jahren reibungslos. Polizisten in Zivil und mit Westen gekennzeichnete Wahlhelfer stehen jedoch ein wenig gelangweilt in den Klassenräumen herum, nur selten verirrt sich ein Wähler auf das Schulgelände. Meist sind es ältere Menschen, die vereinzelt eintreffen. "Ich habe die längste Zeit meines Lebens unter Ben Ali gelebt", sagt Mohamed Mahmoud. "Wählen ist für mich eine Pflicht."

Doch als der 65-Jährige aus der Wahlkabine kommt, wirkt er etwas verstört. "Ich kannte kaum einen Kandidaten und habe jemanden gewählt, den ich aus der Schulzeit kenne."

Für die 161 Sitze in Saieds neuem Parlament hatten sich mehr als 1000 Kandidaten beworben. Die meisten sind Politikneulinge und nur wenige von ihnen haben in den vergangenen Wochen Wahlkampf betrieben. Mit ausländischen Journalisten durften sie vor der Wahl nicht sprechen und sich nicht von Parteien finanzieren lassen. Die Abgeordneten werden zukünftig nur eine repräsentative Funktion haben und können von dem Präsidenten per Dekret abgesetzt werden.

Auch in Kabaria sind die Wahllokale verwaist. Der heruntergekommene Stadtteil im Süden von Tunis ist eigentlich für seine vielen Saied-Anhänger bekannt. Den Wahlhelfern ist die geringe Wahlbeteiligung sichtlich unangenehm. Drei junge Männer sind in die al Quardia Schule gekommen, um für einen gemeinsamen Freund zu stimmen, der sich in die Politik gewagt hat. "Es müssen neuen Gesichter her", sagt einer der Anfang Zwanzigjährigen.

Nach Schließung der Wahllokale verkündet ein Sprecher der Wahlbehörde eine Wahlbeteiligung von unter neun Prozent.

Die unabhängige tunesische Wahlbeobachterinitiative Mourakiboun berichtet von versuchten Stimmenkäufen in den zentraltunesischen Städten SbGafsa, Sbeitla und der Kleinstadt Nabeul. Vereinzelte Fälle von Wahlbetrug hatte es auch während der letzten Abstimmungen gegeben. Meist wurden die moderaten Islamisten der Ennahda-Partei oder ehemalige Regimeanhänger dafür verantwortlich gemacht, Kais Saieds Hauptgegner. Am Montag wollen sich die unabhängigen Wahlbeobachter des amerikanischen Carter-Centers und der Afrikanischen Union zu den Wahlen äußern.

"Die niedrige Wahlbeteiligung und die Vorwürfe von Stimmenkauf einzelner Kandidaten lassen das Projekt von Saied sinnlos erscheinen", sagt Khaled Saad nach Schließung der Wahllokale in der Medina.

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