Wahl in Thüringen:FDP kommt mit AfD-Hilfe an die Macht

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In Thüringen wird der Liberale Kemmerich überraschend mit den Stimmen der CDU und der Rechtspopulisten zum Ministerpräsidenten gewählt. Selbst die Union in Berlin zeigt sich entsetzt.

Von Detlef Esslinger, München

Thüringens AfD-Chef Björn Höcke (rechts) gratuliert FDP-Ministerpräsident Thomas Kemmerich nach dessen Wahl im Landtag. (Foto: Jens Schlueter/AFP)

Der FDP-Politiker Thomas Kemmerich hat sich am Mittwoch von der AfD, also von Rechtsextremisten, zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lassen. Bei der Abstimmung im Landtag in Erfurt erhielt Kemmerich 45 Stimmen, eine mehr als der bisherige Amtsinhaber Bodo Ramelow von der Linken. Das bisherige rot-rot-grüne Bündnis kommt in dem Parlament insgesamt auf 42 Sitze. FDP, CDU und AfD haben zusammen 48 Sitze.

Kemmerich erhielt folglich nicht alle Stimmen aus diesen drei Parteien; seine Wahl war jedoch nur durch ein zumindest unausgesprochenes Zusammenwirken dieser Parteien möglich. Unmittelbar danach verhöhnte die AfD ihre plötzlichen Partner. Ihr Bundesvorsitzender Tino Chrupalla sagte, die Wahl zeige, dass "die Altparteien" den Wählerwillen nicht länger ignorieren könnten. "Altparteien" ist ein Kampfbegriff der AfD, um die demokratischen Parteien herabzusetzen. Der abgelöste Ministerpräsident Ramelow sprach von einer "widerlichen Scharade". Kemmerichs Wahl sei "offenbar gut vorbereitet" gewesen - und "ein deutscher Tabubruch". Allerdings zeichnete sich am Mittwochabend ab, dass der neue Ministerpräsident nun wohl schon daran scheitern dürfte, ein Kabinett zu bilden. Die CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer teilte mit, das Präsidium ihrer Partei sei einstimmig "meiner Linie gefolgt: keine CDU-Minister in einem Kabinett Kemmerich". Der Beschluss bindet rechtlich zwar niemanden. Er hat aber dadurch Bedeutung, dass dem Präsidium auch Mike Mohring angehört, der CDU-Landes- und Fraktionschef in Erfurt. Am frühen Abend hatte Mohring noch erklären lassen, die Fraktion - also auch er - sehe ihre "Verantwortung darin, Stillstand und Neuwahlen zu vermeiden". Sofern er später an der Abstimmung im Präsidium mitwirkte, hätte Mohring sich also dort auf Linie bringen lassen. In einer Rede im Landtag hatte der neue Ministerpräsident Kemmerich am Nachmittag versucht, den Eindruck zu erwecken, fest im demokratischen Lager zu stehen. "Die Brandmauern gegenüber der AfD bleiben bestehen", sagte er - und fügte hinzu: "Ich bin Anti-AfD, Anti-Höcke." Zu dem Zeitpunkt sprach er auch noch davon, eine Regierung mit CDU, SPD und Grünen bilden zu wollen. Dass über eine solche Koalition bislang nie verhandelt worden war, lag auch daran, dass sie von noch weniger Abgeordneten getragen würde als Rot-Rot-Grün. CDU, SPD, Grüne und FDP kommen zusammen nur auf 39 der 90 Sitze. Der Vorsitzende der Bundes-FDP, Christian Lindner, griff Kemmerichs Idee trotzdem auf - indem er sagte, CDU, SPD und Grüne sollten mit Kemmerich reden. Falls sie sich "einer Kooperation mit der neuen Regierung fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig". In der Bundes-CDU sowie in der CSU scheint man diese bereits für unausweichlich zu halten: CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer erklärte nach der Schaltkonferenz des Präsidiums auch: "Am besten sollten die Wählerinnen und Wähler in Thüringen erneut die Wahl haben." Dass die dortige CDU sich dem Kurs der Bundespartei entzogen hatte, ergab sich aus einer Bemerkung der Parteichefin vom früheren Abend. Da sagte Kramp-Karrenbauer, die Fraktion in Erfurt habe "ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei" gehandelt. Auch von CDU-Ministerpräsidenten kam Kritik. Tobias Hans aus dem Saarland sprach von einem "Sündenfall". Michael Kretschmer aus Sachsen warf den Kollegen in Erfurt vor, sie hätten ihre Niederlage bei der Landtagswahl nicht akzeptiert. Auch CSU-Chef Markus Söder verlangte Neuwahlen. In der FDP selbst gab es Lob und Bestürzung. Parteivize Wolfgang Kubicki sprach von einem "großartigen" Erfolg. "Was die Verfassung vorsieht, sollte nicht diskreditiert werden", sagte er. Alexander Graf Lambsdorff, der stellvertretende Chef der Bundestagsfraktion, hingegen schrieb auf Twitter, man lasse sich "nicht von AfD-Faschisten wählen. Wenn es doch passiert, nimmt man die Wahl nicht an." Dieselbe Meinung vertrat Gerhart Baum, der für die Partei von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister war. Baum, Jahrgang 1932, sagte, er sehe in dieser Wahl "einen Schritt in Richtung Weimar". Vor der FDP-Zentrale in Berlin demonstrierten am Abend Hunderte Menschen gegen die Wahl Kemmerichs. Den Fall, dass ein gewählter Ministerpräsident das Amt nicht annimmt, sieht die Thüringer Verfassung nicht ausdrücklich vor. Sie bestimmt, dass der Landtag den Regierungschef jeweils "mit der Mehrheit seiner Mitglieder" wählt. Kommt diese im ersten und zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, "wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält". Dadurch reichten Kemmerich im dritten Wahlgang jene 45 Stimmen, die in den beiden Wahlgängen zuvor noch für niemanden gereicht hätten. Hätte er die Annahme der Wahl verweigert - etwa, weil er aus der Stimmverteilung ablesen konnte, dass ihm die AfD ins Amt verholfen hatte -, hätte es nach Meinung des Verfassungsrechtlers Michael Brenner von der Universität Jena einen weiteren Wahlgang geben dürfen. "In dem wäre wieder gewählt worden, wer die meisten Stimmen erhält", sagte Brenner der Süddeutschen Zeitung. In Berlin soll am Samstag der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und SPD zusammenkommen - "auf unsere Initiative hin", wie SPD-Chef Norbert Walter-Borjans am Mittwochabend sagte.

© SZ vom 06.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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