Zu Afghanistan gibt es zwei vorherrschende Ferndiagnosen: Entweder muss man da sofort raus, weil dem Land allemal nicht zu helfen ist und niemand von der Anwesenheit der ausländischen Soldaten profitiert. Oder man muss schnellstmöglich raus, spätestens 2014, irgendwie gesichtswahrend, und ohne weiteren Schaden zu hinterlassen. Die Botschaft beider Denkschulen ist gleich: Der Einsatz in Afghanistan ist gescheitert. Die Sache wird nicht positiv enden, das Land ist nicht zu stabilisieren.
Für eine dritte, etwas differenzierte Variante, ist wenig Raum nach einem Tag, an dem ein amerikanischer Feldwebel in einem Amoklauf 16 Afghanen, darunter neun Kinder, erschossen hat. Ob er das kaltblütig tat, ob er geistig krank ist, warum das niemand erkennen oder gar verhindern konnte - all das spielt eine nachgeordnete Rolle. Die Grausamkeit dieses Massenmordes verlangt nach einer radikalen Antwort.
Die Taliban werden sie auf den Straßen geben, mit Hilfe von Sprengfallen und Attentaten. Und auch die politischen Entscheider auf allen Seiten werden dem öffentlichen Bedürfnis nach Sühne und Entschlossenheit nachkommen müssen. In Afghanistan ist der Wunsch nach einem Abzug der ungeliebten Ausländer übermächtig. Und auch in den USA will niemand in einen Krieg verwickelt sein, der offensichtlich nicht zu beenden ist, und der lediglich Traumatisierte, seelische und körperliche Krüppel hervorbringt. Genug ist genug. Oder doch noch nicht?
Afghanistan lebt seit Monaten schon im Schatten der Weltereignisse - und es lebt gut damit. Als die Kameras auf die wankenden Regime in der arabischen Welt schwenkten, da setzte sich unter den Kriegsparteien die Erkenntnis durch, dass es zu einem Machtausgleich kommen muss, wenn dieser Albtraum je beendet werden soll. Die afghanische Regierung und die internationalen Truppen mussten erkennen, dass sie den militärischen Kampf gegen die Taliban nie gewinnen würden, auch wenn sie noch so viele Kommandeure der Radikalen gezielt töteten.
Die Taliban müssen mehr bieten als ein Steinzeit-Regime
Die Taliban-Führung merkte indes, dass ihr ihre mittlere Kommandoebene davonlief - jene Kämpfer, die der gezielten Verfolgung ausgesetzt sind und die deswegen ihre blinde Loyalität aufkündigen. Außerdem musste sie der Erkenntnis Tribut zollen, dass sich das Leben in Afghanistan in den zehn Jahren unter fremdem Einfluss massiv verbessert hat. Eine neue Freiheit ist zu spüren. Die Taliban müssen den Menschen also mehr bieten als das Steinzeit-Regime aus den späten 90er Jahren.
Aus diesem Interessengeflecht haben sich zarte Verhandlungen ergeben und ein Friedensplan, der bisher vor allem auf dem Papier steht. Ein erster Schritt - zur Vertrauensbildung - wäre die Überstellung von fünf Taliban-Gefangenen aus Guantanamo an die Vermittler-Nation Katar und im Gegenzug die Freilassung des US-Soldaten Bowe Bergdahl aus der Gefangenschaft der Taliban. Am Freitag haben die fünf in Guantanamo quasi aus eigenem Willen ihre Bereitschaft zu dieser Überstellung erklärt - ein bewusst gesetztes Signal der Regierung Barack Obamas, die damit dem Kongress im Wahljahr signalisieren will: Hier tut sich was, bitte zerstört das nicht.
Gleichzeitig haben US-Kommandeure und die afghanische Regierung die Übergabe des Militärgefängnisses Parwan in afghanische Obhut verabredet. Über die Zukunft der hochumstrittenen Nachtangriffe auf Taliban-Führer wird gerade verhandelt. Binnen zehn Tagen soll Außenminister Zalmai Rassoul nach Katar fliegen, um dort über die Verhandlungen mit den Taliban zu diskutieren.
Kurzum: Das ist die differenzierte Strategie für Afghanistan, die noch ein wenig Hoffnung zulässt. Der Anreiz für einen schnellen, politischen Ausgleich wird sogar noch wachsen, denn Barack Obama scheint für den (Wahlkampf-)Nato-Gipfel in seiner Heimatstadt Chicago im Mai einen neuen Scoop zu planen und will das Abzugsdatum noch weiter vorziehen. Deswegen die verwirrenden Äußerungen der deutschen Bundeskanzlerin aus dem afghanischen Masar-i-Scharif, die sich offenbar noch nicht mit dem Plan anfreunden kann.
Nach dem Amoklauf könnte der Abzugswunsch übermächtig werden
Nach dem Amoklauf wächst die Gefahr, dass der Abzugswunsch übermächtig wird und blind macht - blind vor den eigentlichen Gefahren, die Afghanistan drohen. Die größte Gefahr geht dabei von den radikalen Taliban aus, die nach wie vor keine politische Lösung wollen. Sie sind nach dem Massaker stärker denn je, die Zeit arbeitet für sie.
Ihre Gegenspieler sind die versöhnungsunwilligen Fraktionen der Nordallianz, die in Furcht vor der Rache der Taliban leben. Beide Extreme kann man nur schwächen, indem man die moderaten Gruppen in der Mitte stärkt und vor allem die verhandlungsbereiten Taliban in die Öffentlichkeit zieht, ihnen Bild und Stimme gibt.
Die Zeit rinnt dahin, nach dem Wochenende schneller als zuvor. Was jetzt entschieden wird, prägt Afghanistan auf Jahre. Nun wird darüber bestimmt, ob das Land nach dem Abzug Frieden aus eigener Kraft halten kann. Wer jetzt schon mit Hilfe eines groben Rasters sein Urteil fällt, der trägt selbst zum Unfrieden bei.