In der Türkei tobt wieder ein Machtkampf, und viele Kommentatoren sind sich einig, dass es diesmal Anhänger des charismatischen Predigers Fethullah Gülen sind, die dem Premier Recep T. Erdoğan das Leben schwer machen. Gülen hat über seinen Anwalt die Spekulationen zurückgewiesen, er stecke hinter den Razzien gegen Erdoğan-Vertraute. Aber allein die Tatsache, dass dem Kleriker dies zugetraut wird, zeugt von seinem kolossalen Einfluss. Womit aber mobilisiert Gülen seine Anhänger, zu denen Unternehmer und Lehrer zählen, Ärzte und Studenten, Popstars, Autoren, Busfahrer, Fußballprofis?
Gülen, 72, ist ein Autodidakt, der nur die Grundschule besucht hat. Aber er sagt: "Studium der Physik, Mathematik und Chemie ist Gottesverehrung." Er hat über 60 Bücher verfasst, die meisten von ihnen zu theologischen Themen, oft mit ratgeberischem Charakter. Viele der Bücher sind Kompilationen seiner Predigten. Diese hält er, meistens im Wochenrhythmus per Videostream, von seinem Exil in Pennsylvania aus, wo er seit 1999 lebt.
Die dreiviertelstündigen Monologe beziehen sich oft auf Fragen seiner Anhänger zu sehr unterschiedlichen Themen: Verhältnis zu anderen Religionen, zum Militärdienst, zur EU, wie bekämpfe ich meine Depressionen und den inneren Schweinehund, was ist wahre Vaterlandsliebe?
Manchmal weint er beim Predigen
Als er kürzlich aus aktuellem Anlass gefragt wurde, wie man am besten reagieren solle, wenn man verleumdet werde, zitierte Gülen den Koran: "Und die Diener des Erbarmers sind die, die demütig auf der Erde umhergehen und, wenn die Törichten sie anreden, sagen: Frieden! ( . . .) Und die, die das Falsche nicht bezeugen und, wenn sie unbedachte Rede im Vorbeigehen hören, würdevoll weitergehen." Demut ist die Eigenschaft, die Gülen seinen Zuhörern am meisten ans Herz legt. Zorn zeigt er nie. Manchmal weint er beim Predigen.
Dem nichttürkischen Publikum wurde Gülens Einfluss spätestens 2008 bewusst, als er auf Platz eins einer Rankingliste landete, mit der das britische Debattenblatt Prospect und die amerikanische Zeitschrift Foreign Policy 100 bedeutendste Intellektuelle der Gegenwart ermitteln wollten. Fethullah who? Eine Prospect-Recherche ergab, dass Gülen-nahe Medien wie die Zeitung Zaman (Auflage: 700 000 Exemplare) ihre Leser ausgiebig auf die Intellektuellen-Kür hingewiesen hatten.
Es ist nicht zuletzt diese Mobilisierungskraft, die das Time Magazine würdigte, als es dieses Jahr Fethullah Gülen - ganz ohne Zutun seiner Sympathisanten - zu den 100 einflussreichsten Menschen auf dem Planeten wählte. Das Blatt hob auch Gülens intellektuelle Verdienste hervor: "Als der mächtigste Befürworter der Mäßigung in der islamischen Welt führt Gülen eine dringend wichtige Kampagne."
Vor zehn Jahren bilanzierte Gülen seine Bemühungen um Dialog zwischen Religionen, da lag sein Treffen mit Papst Johannes Paul II. sechs Jahre zurück. Gülen sagte, es sei eigentlich nichts Besonderes, in jedem Menschen vor allem den Menschen zu sehen, unabhängig von seiner Religion. "Glaubt ihr, es gab niemanden vor uns, der das ausgesprochen hätte? Natürlich gab es solche Menschen, aber irgendwie wurden ihre Ideen nicht umgesetzt. Vielleicht deswegen gibt es in meinem engen und breiten Freundeskreis Menschen, die mein Anliegen nicht verstehen. Vielleicht liegt ihre negative Sichtweise daran, dass sie neidisch sind, weil sie diese Sache nicht als Erste angegangen sind. Menschen, die uns für Gavure halten." Für Ungläubige.