Verteidigungspolitik:Allein auf weiter Flur

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Mit Entsetzen reagiert man in Deutschland und Europa auf die Aussagen des französischen Präsidenten, die Nato sei "hirntot". Ohne das Bündnis sei man nicht in der Lage, sich zu schützen.

Von Daniel Brössler und Matthias Kolb, Berlin/Brüssel

Bundeswehr-Soldaten nehmen im niedersächsischen Munster an einer Trainingseinheit teil. Dort ist die schnelle Eingreiftruppe der Nato stationiert. (Foto: Patrik Stollarz/AFP)

Als Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am Sonntag zum Abendessen erschien, kam er der Bundeskanzlerin vermutlich gerade recht. "Die Nato, das transatlantische Bündnis, ist der zentrale Pfeiler unserer Verteidigung", hatte Angela Merkel gerade in ihrem wöchentlichen Video-Podcast verkündet, und es spricht eine Menge dafür, dass sie Macron beim feierlichen Abendessen auf Einladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls eine etwas deutlichere Version dieser Feststellung serviert hat. Die Interview-Äußerung Macrons, wonach die Nato "hirntot" sei, hat das politische Berlin in höchste Alarmbereitschaft versetzt.

So sehr, dass sich die französische Botschafterin Anne-Marie Descôtes am Montag zu einem ungewöhnlichen Schritt entschließt. Überraschend sitzt sie am Morgen bei einer länger geplanten Berliner Konferenz zur Zukunft der Nato, bei der sie eigentlich gar nicht hätte auftreten sollen, auf dem Podium. Ihr Präsident habe "sehr emotionsreiche Worte" gewählt, räumt sie ein, um dann - ebenfalls ungewöhnlich - in etwa darzulegen, wie Macron sich beim Abendessen mit der Kanzlerin erklärt hat. "Natürlich wollte er eine Art Elektroschock verursachen, weil er besorgt ist, und das hat er gestern noch mal gesagt: Natürlich will ich eine starke Nato.

Natürlich ist Artikel 5 wichtig", erläutert die Botschafterin. Genau das war in Berlin in dem Interview, das Macron dem Economist gegeben hatte, anders gelesen worden. Für größte Irritationen sorgen nicht nur Macrons "Hirntod"-Äußerung, sondern auch seine Einlassungen zu Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages, der den Bündnisfall regelt. Auf die Frage, ob auf den Verlass sei, antwortete Macron: "Ich weiß nicht." Das war auf den türkischen Alleingang in Syrien und die Frage gemünzt, was im Falle eines syrischen Gegenschlages geschieht, legte aber offen, dass der Präsident eines der wichtigsten Nato-Länder Zweifel daran hegt, ob das Verteidigungsbündnis im Ernstfall überhaupt zur Verteidigung bereit ist.

Das Entsetzen darüber ließ in Berlin die auch in Nato-Fragen oft uneinige Koalition an einem Strang ziehen. "Es wäre ein Fehler, wenn wir die Nato unterminieren würden. Ohne die Vereinigten Staaten sind weder Deutschland noch Europa im Stand, sich wirkungsvoll zu schützen", schrieb Außenminister Heiko Maas (SPD) bei S piegel Online. Bei der Berliner Nato-Konferenz stellt Annegret Kramp-Karrenbauer, Verteidigungsministerin und CDU-Chefin, am Montag klar: "Davon zu reden, dass die Nato hirntot ist, halte ich für sehr zugespitzt und sehr übertrieben."

Die Nervosität ist in Berlin deshalb so groß, weil die Äußerungen Macrons nicht als Wutausbruch aus Ärger über US-Präsident Donald Trump und den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan gewertet werden, sondern als Ergebnis sehr grundsätzlicher strategischer Überlegungen. Man müsse angesichts der US-Politik die Nato "neu bewerten", fordert Macron. Seiner Meinung nach habe Europa die Kapazitäten, sich selber zu verteidigen. "Europäische Länder haben starke Armeen, vor allem Frankreich", stellt er fest. Man sei folglich in der Lage, sowohl die Sicherheit des eigenen Territoriums sicherzustellen als auch Operationen außerhalb dieses Territoriums durchzuführen. Keinen Zweifel lässt er daran, dass er die Zukunft in einer viel stärkeren und auch eigenständigen europäischen Rolle in der Verteidigung sieht.

Genau das wird in Berlin anders gesehen. Es könne künftig sein, dass man sich in der europäischen Nachbarschaft ohne die Amerikaner engagieren müsse, räumt Kramp-Karrenbauer ein. Es gehe aber nicht um eine "strategische Autarkie". Eine stärkere europäische Zusammenarbeit könne die Nato nicht ersetzen und dürfe sie auch nicht doppeln. Das sei "nicht der Ansatz, den wir haben". Nicht mehr zu verbergen ist der Dissens: Während die Bundesregierung durch mehr europäische Verteidigungszusammenarbeit vor allem den "europäischen Pfeiler" der Nato stärken will, scheinen die traditionell Nato-skeptischen Franzosen das Bündnis auf lange Sicht ersetzen zu wollen.

Auch im Rest Europas wird Macron scharf kritisiert. Dessen Wortwahl sei "gefährlich", klagt Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in der Financial Times. Die Nato sei "die wichtigste Organisation für die Wahrung von Frieden und Freiheit", sagt Morawiecki, in dessen Land US-Soldaten als Schutz vor Russland stationiert sind. Er betont auch, dass Frankreich anders als Polen nicht zwei Prozent der Wirtschaftsleistung in Militär investiere. Mehr Geld für Verteidigung fordert auch Charles Michel, der als Nachfolger von Ratspräsident Donald Tusk bald die EU-Außenpolitik mitprägen wird: "Dies muss innerhalb und mit der Nato geschehen."

Beim EU-Außenministertreffen in Brüssel berichtet Maas von "Beunruhigung", die Macron bei den Partnern ausgelöst habe. Typisch für die höfliche Verpackung des Ärgers ist die Aussage des Slowaken Miroslav Lajčák, der das Interview "nicht hilfreich" nennt. Frankreichs Europaministerin Amélie de Montchalin zeigt sich indes ungerührt. Paris wolle, dass Europa souverän sei und mit einer starken, geeinten Stimme spreche, sagt sie: "Das hat Präsident Macron schon mehrmals gesagt und im Economist nur wiederholt."

© SZ vom 12.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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