Venezuela:Flucht aus dem Ex-Paradies

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Einst galt das Land als das schönste Südamerikas, heute emigrieren die Menschen zu Hunderttausenden. Das hat dramatische Folgen - auch für die Nachbarländer.

Von Boris Herrmann

Venezuela: Menschen mittleren Alters kennen das Land noch als die schönste Gegend Südamerikas, mit traumhaften Stränden, hübschen Leuten mit lustigem Akzent, einem ausgezeichneten Fernsehprogramm und einem unermesslichen Ölschatz unter der Erde. Touristen, Abenteurer, Heiratswillige, auch Migranten und Flüchtlinge kamen bis vor zwei Jahrzehnten gerne hierher. Für jüngere Menschen ist kaum vorstellbar, dass es sich um dasselbe Venezuela handelt, in dem heute Menschen hungern, in dem Antibiotika, Kondome und Klopapier rare Luxusgüter sind, und das Geld nicht das Papier wert ist, auf dem es gedruckt wird.

Laut einer Gallup-Studie will über die Hälfte der Venezolaner zwischen 15 und 29 Jahren dieses Land schnellstmöglich verlassen. Nicht mitgerechnet sind jene, die schon abgehauen sind. Nach Schätzungen dürften seit der Jahrtausendwende bis zu vier Millionen Venezolaner dauerhaft ausgereist sein, die meisten seit der Zuspitzung der Versorgungskrise ab 2014. Das wären mehr als zehn Prozent der Bevölkerung. Manche Beobachter sprechen von einem Exodus syrischen Ausmaßes, andere von einer der größten Migrationskrisen in der Geschichte Lateinamerikas.

Vor allem in den grenznahen Gebieten Kolumbiens und Brasiliens ist die Lage dramatisch. Aber sie wäre noch viel dramatischer, wenn diese Staaten ihre Grenzen dichtmachen würden. Brasilien hat einen Notfallplan verabschiedet und stellt unbürokratisch Aufenthaltsgenehmigungen aus. Kolumbien, das mit seinen sieben Millionen Binnenflüchtlingen des leidlich befriedeten Bürgerkrieges genug Sorgen hat, lässt täglich Zehntausende Venezolaner ins Land, die sich mit Grundnahrungsmitteln versorgen - wohl wissend, dass viele von ihnen dauerhaft bleiben. Auch Peru, Mexiko, Argentinien und Uruguay heißen venezolanische Migranten willkommen.

Die Menschen wollen raus aus dem maroden Land. Das schürt bei den Nachbarn Fremdenhass

Laut der auf Asylrecht spezialisierten Politologin Feline Freier von der Universidad del Pacífico in Lima hat das aber weniger damit zu tun, dass Lateinamerikas Staatenlenker ein besonders großes Herz für Fremde hätten, dahinter steckten vielmehr ideologische Gründe. In weiten Teilen der Region wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein erstaunlich progressives Asylrecht eingeführt. Vor allem die linksgerichteten Regierungen (darunter Venezuela) wollten sich so gegen die USA und Europa profilieren, nach dem Motto: "An unseren Stränden sterben keine Flüchtlingskinder." In Argentinien, Uruguay, Bolivien und Ecuador gibt es sogar so etwas wie ein Menschenrecht auf Migration. Auch jene Staaten, die inzwischen konservativ regiert werden, schotten sich nicht ab. Für sie ist die Aufnahme venezolanischer Flüchtlinge ein politisches Statement in Richtung Caracas, wo der sich links gebende Despot Nicolás Maduro immer noch leugnet, dass es überhaupt eine Krise gibt.

Der innenpolitische Preis dieser Offenheit war lange Zeit überschaubar. Zwar gab es in Lateinamerika immer viele Flüchtlinge, aber die waren meist auf der Durchreise in Richtung USA. Das ändert sich nun mit dem Exodus aus Venezuela. Laut der Politologin Freier provoziert er neuerdings auch Unmut und Fremdenhass und bringt das System der durchlässigen Grenzen ernsthaft ins Wanken. Gerade jetzt wird es aber dringender gebraucht denn je. Lateinamerika täte gut daran, die Lage auch als Chance zu begreifen. Man kann dem maroden Regime in Venezuela alles Mögliche vorhalten, aber Fakt ist: Jene Venezolaner, die da in Massen aus ihrem Land türmen, sind im regionalen Vergleich weit überdurchschnittlich gebildet.

In einer früheren Version des Textes fehlte der Verweis auf die Politikwissenschaftlerin Feline Freier von der Universidad del Pacífico in Lima. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

© SZ vom 13.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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