Venezuela:Caracas in Alarmbereitschaft

Lesezeit: 3 min

Zur politischen gesellt sich die humanitäre Krise: In venezolanischen Schulen bieten Freiwillige während der Ferien Mahlzeiten für hungernde Kinder an. (Foto: Federico Parra/AFP)

In Venezuela bahnt sich die schwerste Konfrontation zwischen Regime und Opposition seit Monaten an.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Das tief gespaltene Venezuela bereitet sich auf eine der schwersten Konfrontationen seit Monaten vor. Unter dem griffigen Titel "1-S" haben führende Oppositionelle zu einer Großdemonstration für den 1. September in der Hauptstadt Caracas aufgerufen. Auch in anderen Teilen des von einer Versorgungskrise erschütterten Landes sind für Donnerstag Kundgebungen gegen das sozialistische Regime von Präsident Nicolás Maduro geplant. Laut einer Erhebung der Zeitung El Nacional wollen sich 34 Prozent aller Venezolaner daran beteiligen.

Die Opposition legt in ihrem Aufruf Wert auf den "friedlichen Charakter" der Proteste, die Rede ist aber auch vom "Marsch auf Caracas" sowie von der "Einnahme Venezuelas". Henrique Capriles, der als Gouverneur des Bundesstaats Miranda zu den bekannten Regimekritikern gehört, lässt wissen: "Den Wechsel gibt es nicht einfach so, man muss dafür kämpfen." Seit den Wahlen Ende vergangenen Jahres dominiert das Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (kurz: MUD) in der Nationalversammlung. Präsident Maduro schert sich allerdings wenig darum, er regiert mit Notstandsdekreten munter an der Parlamentsmehrheit vorbei. Mit dem landesweiten Aktionstag will der MUD nun ein Referendum zur Abwahl Maduros erzwingen - und zwar noch in diesem Jahr. Das versucht die Regierung mit allen Mitteln zu verhindern. Falls das Referendum erst 2017 stattfände, also in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode, dann würde bei einer Absetzung Maduros verfassungsgemäß sein linientreuer Stellvertreter Aristóbulo Istúriz nachrücken.

Angesichts der ohnehin extrem angespannten Lage in Caracas und mit Blick auf die Erfahrungen aus der Vergangenheit befürchten viele Beobachter schwere Ausschreitungen für Donnerstag. Zumal die regierenden Sozialisten zu einer großen Gegendemonstration aufgerufen haben. Polizei und Armee stehen in Alarmbereitschaft. Für die kommenden Tage wurde ein landesweites Flugverbot für Privatjets erlassen. Damit soll offenbar der Bewegungsradius der führenden Oppositionspolitiker sowie ihrer internationalen Unterstützer eingeschränkt werden. Maduro hatte zuletzt im Falle eines Putschversuchs ein wesentlich härteres Durchgreifen als unlängst in der Türkei angekündigt.

Die festgenommenen Politiker seien "gefährliche Putschisten", sagt die Regierung

Einen Vorgeschmack darauf, dass er es ernst meint, gab es bereits am vergangenen Wochenende. Da wurde Daniel Ceballos, ein weiterer Wortführer der Opposition, vom Geheimdienst Sebin zu Hause verhaftet, so stellt es jedenfalls seine Ehefrau Patricia dar. Demnach drangen die Geheimdienstler am frühen Samstagmorgen gewaltsam in die Wohnung ein, unter dem Vorwand einer medizinischen Untersuchung. "Sie steckten ihn in einen Krankenwagen und fuhren ihn ins Gefängnis", teilte Patricia de Ceballos mit. Ihn Mann ist der ehemalige Bürgermeister der Stadt San Cristóbal im westlichen Bundesstaat Táchira, sie selbst fungiert dort bis heute als Innenministerin. Nach den gewaltsamen Protesten von 2014 wurde Daniel Ceballos genau wie sein rechtskonservativer Parteifreund Leopoldo López festgenommen. Während López seither eine vierzehnjährige Gefängnisstrafe absitzt, stand Ceballos zuletzt unter Hausarrest. Dass er nun zurück in die Zelle gebracht wurde, begründete die Regierung Maduro mit einem angeblichen Fluchtversuch, um "Gewalttaten im ganzen Land zu leiten und zu koordinieren".

Das Weiße Haus in Washington forderte die sofortige Freilassung Ceballos. Seine Verhaftung stelle "einen weiteren Versuch dar, das Recht des venezolanischen Volkes einzuschränken und Angst unter der Bevölkerung zu schüren", teilte ein Sprecher des US-Außenministeriums mit. Maduro zeigt sich davon unbeeindruckt, Lopez und Ceballos sind nach seiner Darstellung "gefährliche Putschisten". Aus Sicht der venezolanischen Opposition ist das bloß ein weiterer Beweis, dass der Präsident im Zweifelsfall politische Gefangene nimmt, um sein bröckelndes Regime über die Zeit zu retten. Auch der gewählte Bürgermeister von Caracas, Antonio Ledezma, wird weiterhin im Hausarrest festgehalten.

Neben der politischen verschärft sich auch die humanitäre Krise. Laut der Nachrichtenagentur AP sagen inzwischen neun von zehn Bewohnern der Hauptstadt, dass sie nicht mehr genug zu essen haben. Im Schnitt warten die Menschen demnach 35 Stunden pro Monat in Supermarktschlangen. "Eine korrupte Staatsspitze kann uns nicht den Traum von einem besseren Land rauben", verkündet Henrique Capriles, einer der letzten Oppositionsführer auf freiem Fuß. Er ist, genau wie López, Caballos und Ledezma, keineswegs unumstritten in Venezuela. Aber es ist davon auszugehen, dass seine Meinung inzwischen mehrheitsfähig ist.

© SZ vom 31.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: